Hypoglykämie
Mit der zunehmenden Anwendung einer intensivierten Insulintherapie zur Verbesserung der diabetischen Stoffwechsellage kommt es zu einer Zunahme der Häufigkeit von Unterzuckerungen (Hypoglykämien). Von einer Unterzuckerung spricht man generell bei Blutzuckerwerten < 3.5 mmol/l. Man unterscheidet asymptomatische, milde und schwere Hypoglykämien.
Aktueller Stand
Autoren: Dr. med. Gesine Pottag, Prof. Dr. med. Hendrik Lehnert; Klinik für Endokrinologie, Universitätsklinikum MagdeburgMit der zunehmenden Anwendung einer intensivierten Insulintherapie zur Verbesserung der diabetischen Stoffwechsellage kommt es zu einer Zunahme der Häufigkeit von Unterzuckerungen (Hypoglykämien). Von einer Unterzuckerung spricht man generell bei Blutzuckerwerten < 3.5 mmol/l. Man unterscheidet asymptomatische, milde und schwere Hypoglykämien. Nach den Ergebnissen der DCCT-Studie kommen schwere Unterzuckerungen mit einer Frequenz von 62 Episoden auf 100 Patientenjahre in der Gruppe der intensiviert behandelten Diabetiker vor; der Patient benötigt in diesem Fall fremde Hilfe, um die Hypoglykämie zu überwinden. Die konventionell therapierten Patienten weisen 19 Ereignisse auf 100 Patientenjahre auf. Asymptomatische und milde Hypoglykämien treten häufiger auf, stellen aber wegen der schwächeren Ausprägung eine geringere Gefahr dar.
Hypoglykämien gehen mit einer charakteristischen Reihenfolge von bestimmten Symptomen einher. Eine Hierachie der Blutzuckerniveaus hinsichtlich der Reaktionen des menschlichen Körpers auf eine Hypoglykämie hat P. Cryer beschrieben. Zuerst wird bei Blutzuckerwerten von ca. 4.4 mmol/l die Sekretion des Insulins unterdrückt. Dies wird vom Patienten nicht bemerkt. Im weiteren Verlauf werden Streßhormone aus der Nebenniere und der Hirnanhangsdrüse ausgeschüttet. Der Schwellenwert für die Ausschüttung dieser Hormone liegt bei ca. 3,6 mmol/l. Insbesondere durch die Freisetzung der Katecholamine wird das autonome Nervensystem aktiviert und die folgenden Symptome treten auf: Schwitzen, Zittern, schneller Herzschlag als objektivierbare Symptome, sowie Hunger, Angst und Reizbarkeit als subjektivierbare Beschwerden. Werden diese Beschwerden nicht rechtzeitig erkannt und vom Patienten keine Gegenmaßnahmen ergriffen, treten Symptome (neuroglykopenische) wie Schleiersehen, Kribbeln, Schwäche und verlangsamte Denkprozesse als Ausdruck des Glucosemangels im Gehirn auf. Bei weiterem Absinken des Blutzuckers kann es zu Bewusstlosigkeit kommen.
Ein besonders großes Problem stellen wiederholte Hypoglykämien dar. Verschiedene Forschungsgruppen stellten fest, dass dies zu einer Reduktion der Wahrnehmung für Unterzuckerungen führt. Die Patienten verspüren die Symptome nicht, können somit keine Gegenmaßnahmen ergreifen. Hier tritt oft als erstes Zeichen einer Hypoglykämie eine Bewußtlosigkeit auf. Ursächlich für die Wahrnehmungsstörung ist eine Anpassung an Hypoglykämien. Es kommt zu einer Reduktion der hormonellen Antwort, somit zum Fehlen der hormonvermittelten Symptome wie Zittern und Schwitzen, wie auch zu einer Zunahme des Glucosetransportes in das Gehirn. Was auf den ersten Blick positiv erscheint, ist leider für die Wahrnehmung einer Unterzuckerung von Nachteil. Es entstehen bei den erniedrigten Blutzuckerwerten keine autonomen Symptome, so dass der Patient eine Hypoglykämie nicht erkennt. Normalerweise wacht ein Patient aus einer hypoglykämisch bedingten Bewußtlosigkeit nach eine gewissen Zeit von alleine auf, da auf Grund der Gegenregulation -zwar verspätet- genügend Zucker aus den Glykogenspeichern in der Leber freigesetzt wird. Eine große Gefahr besteht im Alltag, wenn Unterzuckerungen im Strassenverkehr oder bei potentiell gefährlichen Tätigkeiten, z.B. Hausarbeit auf der Leiter, auftreten.
Die Ursachen einer Unterzuckerung können vielgestaltig sein. Eine Studie bei 202 diabetischen Autofahrern hat ergeben, dass 23% einen Unfall durch eine Unterzuckerung erlitten haben. Die Aufschlüsselung der Ursachen der Unterzuckerung in dieser Studie erbrachte, dass die häufigsten Ursachen das Auslassen einer Mahlzeit, körperliche Anstrengung und zu hohe Dosen Insulin waren. Neben der bereits erwähnten Gründe können Alkohol in größeren Mengen und Erbrechen und /oder Durchfall zu Unterzuckerungen führen.
Sollte es bereits zu einer Reduktion der Hypoglykämiewahrnehmung gekommen sein, so kann ein striktes Vermeiden von Hypogkykämien eine Erholung der Wahrnehmung bedingen. Man sollte für mindestens drei Monate Unterzuckerungen vermeiden und höhere Blutzuckerwerte (Mittelwert um 8 mmol/l) akzeptieren.
Neue Aspekte der Forschung und Entwicklung
Besonders gefährlich: Hypoglykämien im StrassenverkehrNeue Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass während einer Unterzuckerung die Durchblutung im Gehirn verändert ist, so werden Hirngebiete, die sehr empfindlich für einen Zuckermangel sind, besonders gut durchblutet. Diabetiker, die schon oft eine Hypoglykämie erlitten haben, zeigen einen stärkeren Anstieg der Durchblutung als Diabetiker mit seltenen Unterzuckerungen. Neben der oben beschriebenen Anpassung durch eine Zunahme des Glucosetransports kommt es auch zu einer Anpassung an Hypoglykämien durch eine Veränderung der Durchblutung. Weiterhin stellte man fest, daß Patienten mit einer Neuropathie (diabetesbedingte Erkrankung des Nervensystems) und häufigen Unterzuckerungen ein besonders hohes Risiko für Wahrnehmungsstörungen der Hypoglykämien haben. Neben der Verschlechterung der Denkprozesse während einer Hypoglykämie kommt es auch nach eine Unterzuckerung nicht sofort zu einer vollständigen Wiederherstellung der Denkprozesse, sondern es wird auch circa eine Stunde für die vollständige Erholung benötigt. Diese Befunde sind für das Allgemeinverhalten sehr bedeutsam. Nach einer Unterzuckerung sollte man nicht gleich ins Auto steigen, sondern möglichst noch eine Stunde warten. Auch die Stimmungslage wird durch eine Hypoglykämie verändert. Beispielsweise treten im Rahmen einer Unterzuckerung Aggressionen verstärkt auf. Diese können bis zu einer halben Stunde nach Wiederherstellung eines normalen Blutzuckers andauern.
Hypoglykämien bei Typ 2 Diabetikern treten seltener auf, bleiben häufig aber unerkannt. Die Unterzuckerungen werden oft fehlinterpretiert. Die Patienten geben beispielsweise Übelkeit oder Schwindel nach der Tabletteneinnahme an. In einen solchen Fall wird eine Tablettenunverträglichkeit von den Diabetikern angenommen, anstatt eine Hypoglykämie zu vermuten. Wahrnehmungsstörung bezüglich einer Hypoglykämie treten häufiger bei Typ 12 Diabetikern als bei Typ 2 Diabetikern auf. So wurde festgestellt, daß bei Typ 12 Diabetikern die Ausschüttung von Glucagon und Adrenalin bereits fünf Jahre nach Krankheitsbeginn eingeschränkt ist. Für Patienten mit Wahrnehmungsstörungen werden heute Programme angeboten, in denen das Erkennen von Hypoglykämiesymptomen trainiert wird.
Zur Vermeidung von Unterzuckerungen tragen auch die neu in den Handel gekommenen Insuline bei. Zum einen gibt es zwei ultrakurzwirksame Insuline, Insulin Lispro (Lispro®) und Insulin Aspart (Novo-Rapid®), die wegen ihrer kurzen Wirkung (2-3 Stunden) in Studien und auch im klinischen Alltag zu einer Abnahme der Hypoglykämieaufigkeit führten. Damit ist die Einnahme einer Zwischenmahlzeit nicht mehr erforderlich. Allerdings muß gerade eine Zwischenmahlzeit am Nachmittag mit einer zusätzlichen Injektion ausgeglichen werden muß, da zu diesem Zeitpunkt die Wirkung des langwirksamen Insulins (Basalinsulin) nachläßt. Zwischenmahlzeiten zum zweiten Frühstück in einer Größe von 1 BE können ohne zusätzliche Injektion toleriert werden, weil die Wirkung des langwirksamen Insulins dies ausgleicht. Zum anderen gibt es auch neue Basalinsuline (Insulin Glargin, Lantus®), die bis zu 24 Stunden wirken und durch ihre langfristige und beständige Wirkung zu einem stabileren Tagesverlauf des Blutzuckers beitragen und die Hypoglykämieneigung reduzieren.
Auch auf dem Gebiet der oralen Medikamente gab es in den letzten Jahren einen erheblichen Fortschritt. Es sind zwei weitere Stoffklassen im Handel. Dies sind die Glinide, die ähnlich wie die Sulfonylharnstoffe eine Insulinfreisetzung aus den Beta-Zellen des Pankreas bewirken, jedoch eine bedeutend kürzere Wirkdauer haben und somit auch hier die Frequenz der Hyoglykämien senken. Wegen der kurzen Halbwertzeit muß eine Tablette vor jeder Mahlzeit eingenommen werden. Ein zweites neues Medikament ist die Wirkgruppe der Thiazolidindione. Medikamente, die zu dieser Gruppe gehören, sind momentan nur als Kombinationstherapien mit Biguaniden, ausnahmsweise Sulfonylharnstoffen zugelassen. Auch unter diesem Medikament ist die Hypoglykämiegefahr als gering eingestuft.
Wissenswertes für Betroffene und Prävention
Zum Schluß möchten wir noch einige Hinweise zum Verhalten während einer Hypoglykämie geben. Bei einer leichten Hypoglykämie sollten 1-2 Broteinheiten (BE) als Traubenzucker oder Saft genommen werden. Vor Beginn einer Mahlzeit kann eine "schnelle BE'' eingenommen werden und es sollte dann unverzüglich die Mahlzeit eingenommen werden. Wichtig ist die sofortige Einnahme von schnellen BE und nicht auf den Beginn der Mahlzeit zu warten. Rasch wirksame BE sind Traubenzucker oder zuckerhaltige Säfte oder Cola, die sofort im Darm aufgenommen werden können und wirken. Bei mittelschweren Hypoglykämien sollte man neben der Einnahme schneller BE auch eine bis zwei BE langsam resorbierbare Kohlenhydrate wie Brot zu sich nehmen. Die Wirkung der schnellen BE ist zwar sofort da, sie klingt aber auch rasch ab, so daß der Blutzucker danach wieder sinken kann.
Wie bereits oben erwähnt, ist bei schweren Unterzuckerungen fremde Hilfe nötig. Wichtig ist die Schulung der nächsten Angehörigen und der Arbeitskollegen, die im Notfall erste Hilfe leisten müssen. Ist der Patient noch ansprechbar, kann eine Gabe von Traubenzucker erfolgen. Reagiert der Patient nicht auf Ansprache, darf ihm keine Flüssigkeit eingeflößt werden. Als einzige Maßnahme, Kohlenhydrate zuzuführen, ist das Einlegen einer Traubenzuckertablette in die Backentasche geeignet. Es sollte darauf geachtet werden, daß der Kopf immer in seitlicher Lage zu liegen kommt. Falls eine Glucagonspritze vorhanden ist, kann eine Injektion in den Muskel oder in das Unterhautfettgewebe (Oberarm, Gesäß, Oberschenkel) erfolgen. In jedem Fall sollte der Notarzt verständigt werden.
Häufiger Fehler ist der Verzehr von fetthaltigen Nahrungsmitteln (Schokolade) unter der Annahme, daß der Zucker darin die Hypoglykämie beseitigt. Das Fett verhindert aber eine schnelle Aufnahme im Darm, so daß ein weiteres Absinken des Blutzuckers erfolgen kann. Bei Unterzuckerungen, die durch Kombinationstherapien mit Acarbose oder Miglitol verursacht werden, hilft nur reiner Traubenzucker (kein Würfelzucker). In jedem Fall muß der Patient die Ursache der Hypoglykämie erkennen, um so weiteren vorbeugen zu können.
Dr. med. Gesine Pottag, Prof. Dr. med. Hendrik Lehnert; Klinik für Endokrinologie Universitätsklinikum Magdeburg
Redaktion: Dr. med. Melanie Stapperfend, Prof. Dr. med. Werner Scherbaum
Dieser Beitrag wurde zuletzt im September 2001 aktualisiert |