Früherkennung (Prädiktion) des Typ 1 Diabetes
Bereits Jahre vor der klinischen Manifestation des Typ 1 Diabetes mellitus treten im Blut der Betroffenen Antikörper auf. Das Risiko, in Deutschland an Typ 1 Diabetes mellitus zu erkranken, liegt bei etwa 0,4 %. Ist bereits ein Familienmitglied (Verwandter ersten Grades) an Typ 1 Diabetes erkrankt, liegt das Risiko etwa 10fach höher.
Prof. Dr. med. Anette-Gabriele Ziegler, Krankenhaus München-Schwabing und Institut für Diabetesforschung, München
Kann Diabetes-Typ-1 schon vor der Erkrankung erkannt werden?
Bereits Jahre vor der klinischen Manifestation des Typ-1-Diabetes mellitus treten im Blut der Betroffenen Antikörper gegen die insulinproduzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse als Ausdruck einer Inselentzündung auf. Eine Bestimmung von Insel-Antikörpern im Venenblut oder im Blut der kleinsten Gefäße (Kapillaren) ermöglicht somit, die Autoimmunkrankheit Diabetes noch vor dem Auftreten von Beschwerden und klinischen Symptomen einer Überzuckerung (Hyperglykämie) zu diagnostizieren.
Bis vor wenigen Jahren wurde vor allem die Bestimmung bestimmter Antikörper dazu verwendet, um bei Verwandten von Patienten mit Typ-1-Diabetes das Risiko, auch an Typ-1-Diabetes zu erkranken, festzulegen (zytoplasmatischer Inselzellantikörper [ICA] und Insulin-Autoantikörper [IAA] ).
Seit der Entdeckung zweier neuer Antigene der Inselzellen hat sich die Strategie der Diabetesfrüherkennung verändert und weiterentwickelt (Glutamantdecarboxylase [GAD] und der Tyrosinphosphatase [IA-2]).Bei Antigenen handelt es sich um körpereigene Bestandteile, die die Bildung von Antikörpern hervorrufen können. In diesem Fall handelt es sich bei den Antigenen um Substanzen der Inselzellen mit einer möglichen Bildung von GAD- und IA2-Antikörpern.
Folgende Empfehlungen zur Früherkennung des Typ-1-Diabetes bei Verwandten werden für Deutschland in Anlehnung an die internationalen Empfehlungen der "Immunology and Diabetes Society IDS" (Diabetes Care 24:398,2001) gegeben:
Empfehlungen zur Früherkennung des Typ-1-Diabetes
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Welche Antikörper sollten zur Früherkennung eines Typ-1-Diabetes getestet werden?
Verschiedene Langzeitstudien vor und bei bekannt werden des Diabetes zeigen, daß eine kombinierte Testung verschiedener Antikörper (GADA + IA-2A oder GADA + IAA) mehr als 85% der Fälle mit zukünftigem oder neumanifestem Typ-1-Diabetes identifizieren kann. Die Spezifität der Antikörpertestung liegt jeweils bei 98%. Deshalb sollte ein Suchtest (Screening) zur Früherkennung von Personen mit erhöhtem Diabetesrisiko mit einer dieser beiden Testkombinationen (GADA + IAA oder GAD + IA2-A) durchgeführt werden.
Auch in der Münchner Familienstudie, bei der über 2000 Verwandte von Patienten mit Typ-1-Diabetes mit unterschiedlichem Alter zwischen 1 und 68 Jahren untersucht wurden, konnten jeweils 92% der Personen, die in einem Beobachtungzeitraum von 10 Jahren an Typ-1-Diabetes erkrankten, durch eine kombinierte Testung dieser Antikörper (GADA + IA-2A bzw. GADA + IAA) vorzeitig erfasst werden. Die Einzeltestung mit nur jeweils einem Antikörper (GADA,IA-2A oder IAA) war dagegen eindeutig unterlegen und identifizierte lediglich 67% (IAA, IA-2A) bis 83% (GADA) der zukünftigen Diabetiker.
Im Kindesalter gehen die Antikörper IAA häufig den Antikörpern GADA oder IA-2A voraus oder stellensogar die einzigen nachweisbaren Antikörper dar. Deshalb sollten IA-Antikörper unbedingt in das Suchtestprogramm (Screening) von Kindern unter dem 10. Lebensjahr mit aufgenommen werden. Ein erster Antikörpersuchtest in diesem Alter sollte mit einem GADA/IAA-Test erfolgen.
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Wann sollte ein sog. Antikörperscreening (Suchtest) zur Früherkennung eines Typ-1-Diabetes erfolgen?
Ein Antikörperscreening (Suchtest auf Antikörper im Blut) sollte bei Kindern alle 3-5 Jahre, bei Erwachsenen etwa alle 10-20 Jahre wiederholt werden, um die Enstehung von Insel-Antikörpern rechtzeitig zu erfassen. Eine Erstuntersuchung zur Früherkennung des Kindheitsdiabetes ist um das 2. Lebensjahr sinnvoll.
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Wie hoch ist das Risiko, an einem Diabetes mellitus Typ-1 zu erkranken?
Das Risiko, in Deutschland an Typ-1-Diabetes mellitus zu erkranken, liegt bei etwa 0,4 %. Ist bereits ein Familienmitglied (Verwandter ersten Grades) an Typ-1-Diabetes erkrankt, liegt das Risiko etwa 10fach höher. Werden Verwandte von Personen mit Typ-1-Diabetes auf Insel-Autoantikörper untersucht, kann das Diabetesrisiko näher präzisiert werden und hängt bei einem positiven Testergebnis im wesentlichen von der Anzahl der positiven Insel-Autoantikörper ab. Nur Personen mit erhöhten Antikörperspiegeln von zwei oder mehr Antikörpern haben ein hohes Diabetesrisiko. Personen mit einem positiven Antikörperbefund bei einer Erstuntersuchung müssen demnach zur Abschätzung des Diabetesrisikos auf alle weiteren Antikörper getestet werden. Eine genaue Risikoeinschätzung sollte durch Bestimmung von mindestens drei der vier etablierten Marker (IAA, ICA, GADA und IA-2A) erfolgen.
Auch in der Münchner Familienstudie erkrankten über 50% der getesteten Personen innerhalb von 6 Jahren an einem manifesten Typ-1-Diabetes, wenn sie bei der Erstuntersuchung für zwei oder drei Insel-Antikörper (IAA, GADA oder IA-2A) positiv waren. Ein ähnliches Ergebnis erbrachte die Deutsche BABYDIAB-Studie, bei der Kinder von Eltern mit Typ-1-Diabetes in den ersten beiden Lebensjahren auf die Antikörper IAA, GADA, und IA-2A getestet wurden. Auch hier entwickelten bereits 40% der Kinder bis zum Alter von 5 Jahren und 100% vor dem 10. Lebensjahr einen klinisch manifesten Typ-1-Diabetes, sobald sie im Alter von 2 Jahren für 2 der genannten Insel-Autoantikörper positiv waren. Dagegen hatten Personen mit nur einem positiven Insel-Autoantikörper in beiden Studien ein deutlich niedrigeres Diabetesrisiko (<10%). Personen mit nur einem negativen Antikörperergebnishatten ein Risiko, einen Diabetes-Typ-1 zu entwickeln, ähnlich dem von nicht-verwandten Normalpersonen (<0,5%).
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Gibt es Qualitätsunterschiede und Qualitätskontrollen bei der Bestimmung von Inselantikörpern?
Die Ergebnisse einer Antikörpertestung sollten immer mit Blick auf die erreichte Sensitivität und Spezifität eines Tests beurteilt werden. International stattfindende "Proficiency-Workshops" ermöglichen jedem Labor in Deutschland, derartige Parameter zu bestimmen. Eine Teilnahme an diesen Workshops wird dringend empfohlen. Patienten, Betroffene und Ärzte sollten darauf achten, dass Antikörpertestungen nur in entsprechend ausgewiesenen Labors durchgeführt werden.
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Ist eine HLA-Typisierung zur Früherkenung sinnvoll?
Beim HLA-System handelt es sich um die verschiedenen Typen der in die Membranen jeder Körperzelle eingebaute Antigene der weißen Blutkörperchen (Leukozyten), die für die Gewebsverträglichkeit bei Transplantationen entscheidend sind. Man kann bei jedem Menschen den HLA-Typ bestimmen.
Eine HLA-DR/DQ-Typisierung ist zur Früherkennung des Typ-1-Diabetes ungeeignet. Sie ist in Kombination mit der Antikörpertestung sinnvoll, um Erbanlagen zu identifizieren, die trotz positiver Antikörper einen Schutz vor der Entwicklung eine Diabetes-Typ-1 darstellen (protektive Allele - eine von mindestens zwei einander entsprechenden Erbanlagen, hier DQB1*0602).
Darüberhinaus gewinnt die HLA-Typisierung bei Geburt zunehmend an Bedeutung, um Risikogruppen vorauszuwählen. Diese Risikogruppen kämen dann für einen Suchtest auf Antikörper (Antikörperscreening) oder eine primäre Immun-Interventionsmaßnahme in Frage kommen.
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Intravenöser Glukose-Toleranztest (IVGTT) zur Früherkennung eines Diabetes-Typ-1
Durch die Messung der frühen Insulinausschüttung nach Injektion von Glucose in die Vene (intravenöse Glukosebelastung) kann das Ausmaß der Zerstörung der Betazellzellenin den Inseln der Bauchspeicheldrüse getestet werden. Diese Zellen produzieren Insulin, und bei Ihrer Zerstörung ist das Insuln nur noch unzureichend oder gar nicht mehr verfügbar.
Ist die Insulinausschüttung bei Personen mit vielfachen Insel-Autoantikörpern beeinträchtigt (nach spezieller Auswertung unter der 1. "Perzentile" von nicht-diabetischen Personen), so besteht ein besonders hohes Risiko, innerhalb eines kurzen Zeitraums einen Diabetes-Typ-1 zu entwickeln (> 80% innerhalb von 5 Jahren) .
Personen mit vielfachen Insel-Autoantikörpern und normaler Insulinausschüttung dagegen haben zwar auch ein erhöhtes Diabetesrisiko, allerdings mit einer längeren Laufzeit und verzögerten Diabetesentwicklung von bis zu 20 Jahren.
Nutzen der Früherkennung von Diabetes-Typ-1
Der Nutzen eines Suchtests zur Früherkennung von Diabetes-Typ-1 (Früherkennungsscreening) für den Betroffenen mit erhöhtem Diabetesrisiko liegt in der Möglichkeit, an Studien und Therapiemaßnahmen teilzunehmen, die das Fortschreiten der Inselentzündung aufhalten und den Ausbruch des Typ-1-Diabetes verhindern. Er liegt auch darin, durch das Wissen um ein erhöhtes Risiko Frühsymptome einer Diabetesmanifestation richtig einzuschätzen und rechtzeitig zu erkennen. So können schwere Stoffwechselentgleisungen bei der Manifestation der Krankheitvermieden werden.
Über 90% der getesteten Personen erhalten ein negatives Testergebnis.d.h., sie weisen keine erhöhten Spiegel von Insel-Antikörpern auf. Daher liegt der Nutzen einer Testung für die Mehrheit der Verwandten von Typ-1-Diabetikern in der Verschaffung von Erleichterung und Reduktion von Angst.
Der Wissenschaftler und Arzt profitiert darüber hinaus von der Frühdiagnostik, da er neue Erkenntnisse über die Entstehung und den natürlichen Verlauf der Diabeteserkrankung erfahren und auf diese Weise neue Behandlungskonzepte zur Heilung des Diabetes entwickeln kann.
Antikörpertesungen bei nichtverwandten Risikogruppen
Ein Insel-Antikörperscreening zur Vorhersage eines Typ-1-Diabetes ist durchaus auch bei nicht mit Typ-1-Diabetikern verwandten Risikogruppen wie Frauen mit Gestationsdiabetes (GDM: Diabetes, der erstmalig in der Schangerschaft auftritt), Kinder mit Zöliakie oder Personen mit anderen Autoimmunerkrankungen sinnvoll. Trotzdem ist das Diabetesrisiko für diese Personengruppen bisher nicht genau definiert und unterscheidet sich möglicherweise von der Risikoabschätzung bei Verwandten.
So sprechen z.B. die Daten einer deutschlandweiten Langzeitstudie von Frauen mit Gestationsdiabetes dafür, dass der Antikörper GAD einen ausreichenden und alleinigen Risikomarker darstellt. Das Vorhandensein von GADA bei Gestationsdiabetikerinnen - unabhängig von anderen Antikörpermarkern - ist nämlich mit einem sehr hohen Risiko (> 50%) der Entwicklung eines Typ-1-Diabetes nach der Gedurt des Kindes verknüpft.
Ähnliche Daten existieren für den LADA-Diabetes (late autoimmune diabetes in adults, latent insulinpflichtiger Diabetes mellitus im Erwachsenenalter), d.h. auch hier scheint das Vorhandensein von GAD-Antikörpern ein ausreichender Risikomarker für das baldige Auftreten einer Insulinabhängigkeit zu sein.
Ist die Früherkennung als Routinesuchtest sinnvoll?
Heute liegen aus Deutschland und anderen Ländern Antikörpertestungen aus der Allgemeinbevölkerung vor. Diese bestätigen grundsätzlich den Vorhersagewert diser Immundiagnostik auch für "Nicht-Risikogruppen".
Deshalb muß diskutiert werden, ob eine Antikörpertestung zur Vorhersage des Typ-1-Diabetes nicht als allgemeine Routineuntersuchung bei allen Kindern der deutschen Bevölkerung eingeführt werden sollte.
Da es im Moment keine gesicherte Behandlung nach Früherkennung des Typ-1-Diabetes gibt, muß man einschränkend anmerken, daß Kinder von einer derartigen Vorsorgeuntersuchung gegenwärtig w enig profitieren.
Ist die Antikörpertestung bei Patienten mit manifestem Diabetes sinnvoll?
Die kombinierte Antikörpertestung (GADA und IA-2A oder GADA und IAA) bei Patienten mit neumanifestem Diabetes ist dann sinnvoll, wenn die klinische Diagnose nicht eindeutig gestellt werden kann, also zur Differentialdiagnose gegenüber Patienten mit Typ-2-Diabetes, MODY-Diabetes, hereditären oder sekundären Diabetesformen. Bei einer klinisch eindeutigen Diagnose ist dagegen die Antikörperuntersuchung entbehrlich und verursacht unnötige Kosten.
Zukünftige Tests zur Früherkennung eines Typ-1-Diabetes
Die weitere Unterscheidung und Charakterisierung von Antikörpern (Antikörper-Subklassen [IgG1,2,3,4], Isotypen [IgM, IgG, IgE, IgA] und Epitopreaktivitäten) könnte für die Früherkennung und Einstufung des Schweregrads einer Inselentzündung in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Ebenso könnte die Messung von Substanzen im Blut, die andere Zellen beeinflussen (vor allem Zytokin IL-4), sowie die Messung von Aktivitäten der T-Zellen gegen Inselantigene Bedeutung gewinnen, sobald eine ausreichende Standardisierung dieser Methoden vorgenommen wurde.
Autorin: Prof. Dr. med. Anette-Gabriele Ziegler Krankenhaus München-Schwabing und Institut für Diabetesforschung, München
Redaktion: Dr. med. Melanie Stapperfend, Prof. Dr. med. W. Scherbaum
Aktualisiert: Mai 2001
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