Immer mehr übergewichtige Kinder
(04.10.2002) Schwere Erkrankungen als Folge - Behandlung der Fettsucht oft unzulänglich
In den Industrienationen leiden rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren an Übergewicht oder Fettsucht, einer Adipositas Etwa vom zwölften Lebensjahr an. bleibt eine solche Störung mit großer Wahrscheinlichkeit auch im Erwachsenenalter bestehen. Dagegen erweist sich Übergewicht im Säuglings- und frühen Kleinkindesalter glücklicherweise häufig als ein vorübergehendes Phänomen. Die Adipositas ist um so hartnäckiger, je höher das Übergewicht ist und je stärker die Eltern davon betroffen sind. Von größter gesudheitspolitischer Bedeutung ist die Tatsache, daß das Ausmaß von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen stetig zunimmt. So haben Wissenschaftler der Universitätskinderklinik Leipzig in Zusammenarbeit mit einem Netzwerk von über 200 Kinderärzten in Ostdeutschland ermittelt, dass übergewichtige zwölfjährige Mädchen im Jahre 2001 durchschnittlich bereits 72,5 Kilogramm wogen, während es im Jahr 1998 erst 71,5 Kilogramm waren.
Fettsucht ist bei Kindern eine schwerwiegende Gesundheitsstörung: Das Ausmaß des Übergewichts ist ein Gradmesser für die Wahrscheinlichkeit, mit der sich Folgeerkrankungen einstellen werden. Kinder mit Adipositas haben ein geringeres Selbstbewußtsein. Außerdem verfallen sie leichter Drogen, vor allem Alkohol und Nikotin. Schwer übergewichtige Jugendliche sind häufig sozial isoliert und neigen sogar häufiger zu Selbstmord. Von besonderer Bedeutung ist, dass übergewichtige Kinder und Jugendliche bereits durch Arteriosklerose und Bluthochdruck bedroht sind. Hormon- und Stoffwechselstörungen sind oft Vorboten der Zuckerkrankheit. Hinzu kommen orthopädische Schäden, vor allem chronische Rückenschmerzen, unter denen inzwischen in Deutschland sieben bis zehn Prozent der übergewichtigen Jugendlichen leiden. Es kommt vermehrt zu Atembeschwerden bis zum Schlaf-Apnoe-Syndrom und - bei Mädchen - zum polyzystischen Ovarsyndrom, das mit Störungen der Fruchtbarkeit einhergeht. Parallel zum Anstieg von Übergewicht und Adipositas nehmen affektive Störungen, vor allem Depressionen, Angst und Eßstörungen, stark zu. Dies zeigt, dass dem Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen große psychosoziale und gesellschaftspolitische Bedeutung zukommt.
Für betroffene Familien und die behandelnden Ärzte ist es wichtig zu wissen, dass eine ganze Reihe von Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter mit Übergewicht einhergehen. Deshalb müssen Hormonspezialisten klären, ob eine Störung der Hirnanhangdrüse, der Schilddrüse oder der Nebenniere vorliegt. Angeborene, vererbbare Veränderungen der Erbsubstanz, sogenannte monogene Erkrankungen, können auch beim Menschen. gelegentlich Übergewicht auslösen.
Bei den allermeisten Kindern gehen Übergewicht und Adipositas auf äußere und angeborene Faktoren zurück. Einerseits begünstigt Fehlernährung mit einem zu hohen Fettanteil, das typische "Snacken" zwischen den Mahlzeiten, die Entstehung von Fettdepots. Andererseits bedingt mangelnde Bewegung einen zu geringen Verbrauch von Kalorien. Altersgerechte sportliche Betätigungen werden bereits im Kindergartenalter weder ausreichend angeboten noch angemessen genutzt. Hiervon rühren auch die bereits weithin zu beobachtenden Haltungsschäden bei sechs- bis neunjährigen Kindern in Deutschland her. Zuviel Fernsehen wird insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Deutschland als wichtigste Ursache der kindlichen Adipositas angesehen. Neueste Erhebungen der Stanford-Universität in Kalifornien belegen, dass Kinder in den Vereinigten Staaten durchschnittlich 25 Prozent der Zeit, in der sie nicht schlafen, vor dem Fernseher verbringen.
Die Therapie von Kindern mit Adipositas und deren Familien sollte mehrere Bereiche umfassen. Ernährungsberatung, Wissen um gesunde Ernährung und das Umsetzen dieses Wissens müßten im Mittelpunkt. stehen. Außerdem sollten Bewegungsprogramme, wie sie beispielsweise in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig und dem Universitätssportclub Leipzig angeboten werden, der Bewegungsarmut von Kindern und Jugendlichen abhelfen. Die Medien werden besonders in England in jüngster Zeit vermehrt dazu genutzt, in großem Stil Aufklärungsarbeit zu leisten.
Während eine solche Kombinationsbehandlung, die eine familiäre Verhaltenstherapie mit psychosozialer Intervention einschließt, bei Übergewicht Erfolg bringen kann, sind die Ergebnisse bei bereits vorhandener Fettsucht weltweit erschreckend gering. Eine langfristige Gewichtsabnahme und Gewichtsstabilisierung gelingt nach neuesten Analysen nur bei 20 Prozent der Betroffenen. Kurzfristige Kuraufenthalte oder einmalige Interventionen versagen in aller Regel. Die Therapiemotivation und die psychosoziale Situation der gesamten Familie müssen bei allen Behandlungsversuchen berücksichtigt werden.
Nach neuesten Erkenntnissen aus den Vereinigten Staaten sowie aus dem "CrescNetR" genannten Ärztenetzwerk der Universitätskinderklinik Leipzig und der daran beteiligten Kinderärzte beginnt die übermäßige Zunahme des Gewichts im dritten Lebensjahr. Präventive Maßnahmen sind deshalb bereits im Kindergartenalter und frühen Schulalter nötig.
An der Universität Kiel wurde 1996 eine Adipositas-Präventionsstudie begonnen. Im Rahmen des von M. Müller konzipierten Interventionsprogramms verbesserten sich die Ernährung und das gesundheitsfördernde Verhalten. Die Zahl der Zwischenmahlzeiten nahm ab, die körperliche Bewegung zu. Die Ergebnisse des Kieler Projekts zeigen, dass Präventionsprogramme erfolgreich sein können.
Angesichts der hohen Aufwendungen für das Gesundheitswesen ist es unverständlich, daß eine der häufigsten Volkskrankheiten, die bereits im Kindes- und Jugendalter epidemieartige Dimensionen angenommen hat, häufig nur laienhaft diagnostiziert, behandelt und wahrgenommen wird. Die fehlende Wahrnehmung bei Politikern, Krankenkassen und Förderinstitutionen ist gefährlich, weil Übergewicht schwer rückgängig zu machen ist. Die gesundheitsökonomische Dimension ist auch in Deutschland inzwischen nicht mehr zu übersehen. Die Behandlung und - noch besser - die Verhinderung der ländlichen Adipositas ist die einzig sinnvolle Prävention von Adipositas im Erwachsenenalter. Dabei ist die Behandlung von Übergewicht und Adipositas gerade im Kindes- und Jugendalter schwierig und für alle Beteiligten oftmals frustrierend. Es müssen Behandlungs- und Präventionsstrategien entwickelt und propagiert werden. Der Ulmer Pädiater M. Wabitsch hat zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindesalter (AGA) entsprechende Leitlinien vorgelegt. Die darin beschriebenen Strategien müssen nun erprobt werden. Die Instrumente sind in Deutschland vorhanden, sie wollen nur genutzt werden.
Prof. Dr. med. Wieland Kiess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche in Leipzig
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