Diabetische Neuropathie (Teil 2)
Was muss der Arzt untersuchen um eine diabetische Polyneuropathie festzustellen? - Untersuchungen, Diagnostik
Einer jeden körperlichen Untersuchung sollte die Erfragung von Lebensalter, Körpergewicht, Körpergröße, Diabetesdauer, eventuell bestehender Folgeerkrankungen frühere und aktuelle Behandlungen, sozialem Umfeld, körperlicher Leistungsfähigkeit, Medikation und aktueller Beschwerden (Anamnese) vorausgehen. Durch eine genaue Erfassung der subjektiven Beschwerden mit Hilfe von Fragebögen (z.B. Stärke und Tageszeitpunkt der Schmerzerlebnisse) kann der Schweregrad der Neuropathie skaliert und objektiviert werden. Für die Routinediagnostik empfiehlt sich ein zweistufiges Vorgehen mit Vorsorgeuntersuchungen (1. Stufe) und Spezialdiagnostik (2. Stufe). Die Vorsorgeuntersuchungen umfassen simple allgemeine und neurologische Untersuchungen, die von jedem Arzt durchgeführt werden können. Sie sind auch als Wiederholungsuntersuchungen zur Verlaufsdiagnostik geeignet. Wichtig ist die ausführliche Begutachtung (Inspektion) der Haut von Armen, Beinen und Rumpf (z.B. Farbe, Druckstellen, Temperatur) und das Fühlen der Fußpulse.
Mit Hilfe der neurologischen Untersuchungen können klinisch manifeste (mit Symptomen) von subklinisch verlaufenden Neuropathien (ohne Symptome, aber mit teilweise oder leicht pathologischen Funktionstests) unterschieden werden. Sensibilitätsprüfungen können mit einfachen Hilfsmitteln, wie Wattestäbchen (stumpfe Berührung), Zahnstocher (spitze Berührung), Eiswürfeln (Kälteempfindung), Warmwasserröhrchen (Wärmeempfindung) und Stimmgabel (Vibrationsempfindung) durchgeführt werden. Die wichtigsten motorischen Funktionen (Muskelspannung, Kraftentfaltung, Muskeldehnungsreflexe) sollten ebenfalls geprüft werden. Sind diese einfachen Untersuchungen gelaufen und haben sich Hinweise für eine Neuropathie ergeben stehen weiterführende Untersuchungen zur Verfügung.
Zur ausführlichen Diagnostik der peripheren sensomotorischen Polyneuropathie kommen Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit zum Einsatz. Prinzip der Untersuchung ist die Reizung des Nerven durch einen elektrischen Reiz und Messung der Antwortzeit. Bei Polyneuropathien ist die Nervenleitgeschwindigkeit verringert. Bei der Elektromyographie (EMG) werden, ähnlich dem Elektrokardiogramm (EKG), über Elektroden elektrische Aktivitäten innerhalb des Muskels abgeleitet und gemessen. Zum Nachweis einer kardialen autonomen diabetischen Neuropathie dienen verschiedene Untersuchungen mit dem Elektrokardiogramm (EKG) und Blutdruck- und Pulsmessungen beim Aufstehen aus liegender Position (Orthostasereaktion). Standard in der Diagnostik der autonomen diabetischen Neuropathie des Gastro-Intestinal-Traktes sind Ultraschalluntersuchungen und die sog. Funktionsszintigraphien. Es werden Testmahlzeiten mit radioaktiv markierten Bestandteilen (z.B. CO2-Isotope) gegeben und die Abgabe dieser Isotope in der Atemluft gemessen. Zum Ausschluss anderer Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes sollten endoskopische Verfahren (Magen- und Darmspiegelungen) durchgeführt werden.
Bei Verdacht auf eine autonome diabetische Neuropathie des Urogenitaltraktes sollten Untersuchungen des Urins (auf Bakterien, Zellbestandteile und Eiweiße) untersucht und Ultraschalluntersuchungen (Niere) durchgeführt werden. Unter Umständen müssen radiologische Untersuchungen der Nieren und endoskopische Verfahren (Blasenspiegelung) eingesetzt werden. Eine weitere wichtige Untersuchung im Rahmen der diabetischen autonomen Neuropathie ist die Messung des dynamischen Druckverteilungsmusters der Fußsohlen beim Gehen (Pedographie).
Gibt es Nervenerkrankungen, die sich ähnlich bemerkbar machen? - Differentialdiagnosen
Eine periphere sensomotorische Neuropathie kann andere Ursachen haben und dabei in ihren Symptomen und Beschwerdemustern der diabetischen Form sehr ähnlich sein. Neuropathien anderer Genese können entstehen durch chronischen Alkoholabusus, neurotoxische Medikamente (z.B. Barbiturate, Zytostatika), Chemikalien (z. B. Lösungsmittel, Schwermetalle, Insektizide), Tumorerkrankungen (paraneoplastischer Syndrome) , oder Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises ausgelöst durch Antikörper gegen körpereigene Zellen (Panarteriitis nodosa).
Wie sieht die Therapie der diabetischen Neuropathie aus? - Behandlung
Durch einen gut eingestellten Blutzucker kann man diabetesspezifische Folgeerkrankungen wesentlich verzögern oder weitgehend verhindern. Für jeden Diabetiker ist eine ausgewogene Ernährung von wichtiger Bedeutung. Körperliche Betätigung verhilft nicht nur zur Reduktion des Körpergewichtes, sondern beeinflusst zusätzlich wichtige Stoffwechselprozesse, senkt erhöhte Blutdruck- und Blutfettwerte. Alkohol- und Nikotinkarenz wirken sich günstig auf die Stoffwechselprozesse im Körper aus und bewirken eine Senkung des Blutzuckerspiegels. Chronischer Alkoholkonsum kann eine Polyneuropathie auslösen oder eine diabetische Neuropathie verschlechtern. Ein erhöhter Blutdruck und erhöhte Cholesterinwerte im Blut sollten bei Diabetikern frühzeitig und konsequent behandelt werden. Die ärztliche Therapie variiert je nach Symptomatik und Stadium der Neuropathie. Werden bei einer Routineuntersuchung Einschränkungen bestimmter Empfindungsqualitäten (des Vibrationsempfinden z. B.) festgestellt, die der Patient noch gar nicht bemerkt hat (subklinischen Neuropathie), so besteht trotz geringer Symptome Handlungsbedarf. Druckstellen an den Füßen sollten vermieden und die Füße gut gepflegt werden. Wenden Sie sich dazu an einen professionellen Fußpfleger. In speziellen Diabetes Zentren steht in den sog. Fußambulanzen speziell geschultes Personal zur Verfügung. Insbesondere bei Verformungen der Füße ist eine orthopädisch-technische Versorgung mit Schuheinlagen oder speziellem Schuhwerk notwendig.
Bei akuten Schmerzereignissen im Rahmen der peripheren sensomotorischen Neuropathie kommen zunächst einfache Schmerzmittel zum Einsatz (Paracetamol, Novalgin). Bei chronischen Schmerzuständen können viele verschiedene Pharmaka je nach der individuellen Situation des Diabetikers in Betracht gezogen werden. Gesicherte Nachweise für den sinnvollen Einsatz in der Therapie der diabetischen Neuropathie gibt es für spezielle Neuropathiemittel (z. B. Alpha-Liponsäure), Antiepileptika (Carbamazepin, Gabapentin), das starke Schmerzmittel Tramadol, trizyklische Antidepressiva (Amitryptilin, Clomipramin, Desipramin Imipramin). Für die Flüssigkeit Capsaicin (zum Einreiben schmerzender Gelenke), den antiarrhythmischen Wirkstoff Mexiletin und die Antidepressiva Sitalopram und Paroxetin ist der sinnvolle Einsatz in der Therapie der diabetischen Neuropathie nachgewiesen. In Deutschland sind diese Medikamente allerdings zur Therapie der diabetischen Neuropathie noch nicht zugelassen.. Die Physikalische Therapie (Wärme- und Kältebehandlungen) spielt eine weitere wichtige Rolle in der Therapie der peripheren sensomotorischen Neuropathie.
Sind die Schmerzleitenden Nervenfasern beeinträchtigt fehlt ein wichtiges Frühwarnsymptom zur Vermeidung von Druckstellen an den Füßen oder anderen Körperstellen. Die regelmäßige Inspektion der Füße, angemessenes Schuhwerk, sowie Physiotherapie können die Entstehung von Druckstellen vermeiden. Wegen ihrer komplexen Symptomatik kann die diabetische Neuropathie die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen (Diabetologen, Neurologen , Chirurgen, spezialisierter Fußambulanz, Fußklinik, Orthopädietechniker, orthopädischer Schuhmacher) erforderlich machen.
Im Rahmen der autonomen Neuropathien können viele verschiedene Organsysteme befallen sein. Eine Reihe von speziellen symptomatischen Therapieverfahren stehen dafür zur Verfügung. Die Schädigung der Nerven am Magen (diabetische Gastropathie) und am Herzkreislaufsystem (kardiale autonome diabetische Neuropathie), erektile Funktionsstörungen bei männlichen Diabetikern und die gestörte Wahrnehmung von Hypoglykämien stehen als häufigste Formen der autonomen diabetischen Neuropathie im Vordergrund. Die spezielle Therapie der autonomen kardialen diabetischen Neuropathie ist in vielen Fällen nicht nötig. Bei einer zu hohen Herzfrequenz (Sinustachykardie) können Betablocker in niedriger Dosierung eingesetzt werden. Zur Regulation von orthostatischen Kreislaufproblemen empfehlen sich physikalische Maßnahmen, wie z. B. Kompressiosstrümpfe, körperliches Training in einem vernünftigen Maß, Schlafen mit erhöhtem Oberkörper, langsames Aufstehen nach Bettruhe und das Kreuzen der Beine im Stehen. Die Beeinträchtigung der Magenfunktion bei der diabetischen Gastroparese lässt sich am günstigsten mit einer individuellen Einstellung des Spritz-Ess-Intervalls behandeln. Um das Risiko von Hypoglykämien nach dem Essen durch die verzögerte Magenentleerung zu verringern, kann Insulin z. B. erst nach dem Essen gespritzt werden. Zur Behandlung der erektilen Funktionsstörung bei männlichen Diabetikern stehen prinzipiell Medikamente (Sildenafil, Schwellkörper-Autoinjektionstherapie) oder mechanische Erektionshilfen zur Verfügung (Vakuumerektionshilfen, Schwellkörperprothesen).
Wie ist der Verlauf der diabetischen Neuropathie? - Verlauf, Komplikationen
Man unterscheidet verschiedene Verlaufsformen der sensomotorischen diabetischen Neuropathie. Im ersten Stadium der Erkrankung bestehen für den Diabetiker keinerlei Beschwerden. Allerdings sind sog. Oberflächenqualitäten (z. B. Vibrationsempfinden, Wärme- und Kälteempfindungen) bereits eingeschränkt. Die klinische neurologische Untersuchung ist unauffällig. Allerdings ist die Nervenleitgeschwindigkeit (gemessen mittels Elektroneurographie) pathologisch verlangsamt. Akute Schmerzerlebnisse mit plötzlich einschießenden Schmerzen in den Beinen, am Körperstamm oder im Gesicht können im weiteren Verlauf der diabetischen Neuropathie auftreten. Langanhaltenden Beschwerden wie Brennen, Kribbeln in den Beinen (Parästhesien), einschießende oder stechende Schmerzen kommt bei der diabetischen Neuropathie sehr häufig vor. Besonders in Ruhephasen (nachts zunehmend)treten diese Symptome auf. Bei der klinischen Untersuchung werden Empfindungsstörungen unterschiedlicher Qualität und Ausprägung, sowie abgeschwächte Muskeleigenreflexe (z. B. Achillessehnenreflex, Patellarsehnenreflex) festgestellt. Schreiten die Schäden an den Nerven weiter fort, etwa durch einen schlecht eingestellten Blutzucker, so kommt es schließlich zum Untergang der Schmerzfasern in den Nerven und zum kompletten Gefühlsverlust. Reflexe sind zunehmend schwerer auszulösen. Zum Untergang von Muskelzellen (Atrophie der Muskulatur) kommt es im weiteren Verlauf der diabetischen Neuropathie vor und ist mit Schmerzen und Lähmungserscheinungen verbunden. Meist sind davon Oberschenkel- und Beckenmuskulatur betroffen. Zu den Langzeitkomplikationen der diabetischen Neuropathie zählen der diabetische Fuß mit Druckgeschwüren, die sich infizieren können und sehr schlecht abheilen und ein durch den Untergang der Muskulatur und der Blutversorgung hervorgerufener Befall der Knochen und Gelenke, besonders an den Beinen und Füßen. Diese führen nicht selten zur Amputation der entsprechenden Gliedmaßen.
Wie kann ich der diabetischen Neuropathie vorbeugen? - Vorbeugung
Ohne die konsequente Einstellung des Blutzuckers leben Diabetiker mit einer Vielzahl von Erkrankungsrisiken. Durch einen gut eingestellten Blutzucker kann man diabetesspezifischen Folgeerkrankungen wesentlich verzögern oder gar verhindern.. Alkohol und Nikotinkarenz wirken sich ebenfalls günstig auf die Stoffwechselsituation im Körper aus. Chronischer Alkoholkonsum kann eine Polyneuropathie auslösen oder eine diabetische Neuropathie verschlechtern. Sie selbst können sich über Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus informieren und ihren Hausarzt bei Ihrem nächsten Besuch gezielt auf vorbeugende Maßnahmen ansprechen. Die einfache neurologische Untersuchung zur Diagnose der sensomotorischen diabetischen Neuropathie kann von jedem Hausarzt schnell und effektiv durchgeführt werden, da keine speziellen Geräte benötigt werden. Sie liefert die ersten wichtigen Warnhinweise für die Entstehung einer diabetischen Neuropathie.
Wer hilft? - Informationsquellen, Ansprechpartner
Wenn ein Diabetes mellitus bereits bei Ihnen festgestellt wurde, dann sprechen Sie Ihren Hausarzt auf eine Untersuchung des Nervensystems an.
Anja Neufang-Sahr, Prof. Dr. med.Werner Scherbaum, Deutsches Diabetes-Forschungsinstitut Düsseldorf
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