Moderne Diabetestherapie: Postprandiale Blutzuckerspitzen vermeiden
(13.03.2000) Bekanntlich besteht das Krankheitsbild Diabetes mellitus bei mehr als 5% der deutschen Bevölkerung - mit einer Tendenz zur Zunahme bis zu 10% im Jahre 2010. Warum ist das so? Warum wird, ja ist der Diabetes eine Volkskrankheit? Vier Gründe sind hierfür zu nennen: Die äußeren Lebensbedingungen der Bevölkerung mit Überernährung und Bewegungsmangel, die längere Lebenserwartung der Menschen, die "ihren Diabetes" noch erleben, die Vererbung der Zuckerkrankheit und nicht zuletzt die Verschärfung der diagnostischen Kriterien.
Nach Untersuchungen der American Diabetes Association hat sich gezeigt, dass bereits von Nüchternblutzuckerwerten von 110 mg/dl (Vollblut) an aufwärts mit diabetischen Folgeschäden gerechnet und deswegen die Diagnose "Manifester Diabetes mellitus" schon in diesem Bereich gestellt werden muß. Mehr noch: Es hat sich erwiesen, dass viele Diabetiker nur dann erkannt werden können, wenn die postprandialen Blutzuckerwerte (z.B. ab 180 mg/dl venöses Vollblut, zwei Stunden nach der Gabe von 75 g Glucose) mitberücksichtigt werden.
Postprandiale Blutzuckerwerte sind aber nicht nur von hohem diagnostischen Nutzen, sondern auch von prognostischem und damit therapeutischem Interesse. Zahlreiche Untersuchungen in den letzten Jahren haben nämlich ergeben, dass bevorzugt Blutzuckerspitzen nach den Mahlzeiten zu einer erhöhten Mortalität vaskulärer Genese und bezeichnenderweise auch zu einer pathologisch erhöhten Intima-Media-Dicke der Gefäße korreliert sind. Ganz offensichtlich irritieren postprandiale Blutzuckerspitzen bevorzugt das Gefäßendothel und stören die Rheologie des Blutes. Aufgrund von Empfehlungen einer europäischen Konsensus-Konferenz gelten postprandiale Blutzuckerwerte ab 160 mg/dl als schädlich im Sinne einer Mikroangiopathie, während bereits Werte ab 135 mg/dl schon mit einer Förderung makroangiopathischer, also arteriosklerotischer Prozesse einhergehen. Diese Erkenntnisse haben zwei Implikationen im Gefolge: Zunächst muß sichergestellt werden, dass solcherart erhöhte Blutzuckerwerte nicht verborgen bleiben. Postprandiale Blutzuckermessungen in Praxis, Klinik und vor allem bei der Selbstkontrolle der Patienten sind also das Gebot der Stunde. Alleinige Harnzuckerbestimmungen für die Erkennung des Makroangiopathie-Risikos anhand der europäischen Kriterien sind obsolet, da die Risikogrenze weit unter der Nierenschwelle für Glucose (160-180 mg/dl) liegt. Auch in die HbA1c-Werte - zu Recht sonst als "Goldstandard" der Diabeteskontrolle bezeichnet - brauchen sehr kurz wirksame postprandiale Blutzuckerspitzen aus speziellen biochemischen Gründen nicht einzugehen, sind also an diesem glykierten Protein nicht zu erkennen. Vor allem gilt es aber, rechtzeitige und richtige Therapiemaßnahmen zu ergreifen. Um diese zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass beim Typ-2-Diabetiker (95% aller Zuckerkranken leiden an diesem Diabetestyp) primär die erste "schnelle Phase" der Insulinsekretion und weniger die langsamer einsetzende "zweite Welle" der Insulinsekretion gestört ist, was bevorzugt zu postprandialen Blutzuckerspitzen führt.
Was kann man hiergegen tun? Zunächst einmal wirkt als ernährungstherapeutische Maßnahme der Vollzug der Forderung, viele kleine anstelle weniger großer Mahlzeiten zu sich zu nehmen und die Zufuhr von reinem Zucker vom Glucosetyp weitgehend zu vermeiden, im Sinne einer Blutzuckerglättung. Kausal kann dem Defekt der frühen Insulinsekretion mit seinen Folgen für die Blutzuckerregulation aber auch dadurch entgegengewirkt werden, dass man zu den Mahlzeiten eine schnell wirksame insulinotrope, d.h. die Insulinsekretion fördernde Substanz wie Repaglinide oder in Zukunkt auch Nateglinide, einem bedarfsgerecht wirkenden Sulfonylharnstoff (Glimepirid) oder die den Blutzucker glättende Acarbose einnimmt. Bei Übergewichtigen ist oft eine Metforminbehandlung oder in Zukunft die Gabe von Glitazonen angezeigt. Dieses Vorgehen begünstigt die rasche Verwertung der Kohlenhydrate, ohne dass es noch länger zu postprandialen Blutzuckerspitzen kommt. Außerdem besteht zwischen den Mahlzeiten in der Regel keine persistierende Hyperinsulinämie, die ja wegen der damit verbundenen Förderung der Lipogenese und des Hypoglykämierisikos durchaus unerwünscht wäre. Da der Typ-2-Diabetes zumeist mit mehrjähriger Verspätung diagnostiziert wird - in einer Phase also, in der der endogene Insulinmangel schon weit fortgeschritten ist -, genügt es jedoch oft nicht, allein mit Tabletten zu behandeln. Vielmehr muß - nach dem Prinzip der komplementären Insulintherapie - dieses Hormon nicht selten von außen zugeführt, aber dabei ebenfalls auf die Mahlzeiten abgestimmt werden. Dies gelingt natürlich besonders gut mit Normalinsulin oder den extrem kurz und schnell wirksamen Insulinanaloga Insulin Aspart und Insulin Lispro, mit deren Hilfe man ebenfalls das Insulindefizit der ersten Phase der körpereigenen Insulinsekretion beseitigen und - wegen der kurzen Wirkung - die Förderung der Fettsucht durch die Insulintherapie vermeiden kann.
Dieser modernen Diabetestherapie liegt also ein wichtiges Prinzip zugrunde: Die Beseitigung der postprandialen Blutzuckerspitzen und damit die Optimierung der Diabeteseinstellung, deren Qualität maßgebend für die Abschwächung, Verzögerung oder sogar Verhinderung diabetischer Folgeschäden verantwortlich ist. Für Mikro- und Makroangiopathie sowie Neuropathie hat also zu gelten, dass eine normnahe Blutzuckereinstellung - zusammen mit der Bekämpfung von Dyslipoproteinämie und Hypertonie - das oberste Gebot für die Optimierung der Prognose bei der Volkskrankheit Diabetes darstellt.
Prof. Dr. Hellmut Mehnert Deutsche Diabetes Union e.V. Krailling |