HYDRA - Weltweit größte Studie zu Hypertonie, Diabetes und Folgekrankheiten
(26.07.2002) Häufiger als gedacht - zu spät erkannt - ungenügend behandelt? Fast jeder zweite Patient in der Allgemeinarztpraxis leidet an arteriellem Bluthochdruck und jeder fünfte Patient hat Diabetes mellitus, so Prof. Kirch, Direktor des Instituts für klinische Pharmakologie in Dresden und Wissenschaftler der HYDRA-Studie.
Diese Krankheiten treten häufig gemeinsam auf, und sind bei über 80% mit weiteren schwerwiegenden Begleit- und Folgeerkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen, Nervenerkrankung etc.) verbunden. Die Größenordnung insbesondere der Folge- und Begleiterkrankungen, das Ausmaß des damit verbundenen persönlichen Leidens sowie die immensen diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen für die behandelnden Ärzte wurden bislang massiv unterschätzt.
Dies sind zentrale Ergebnisse der bundesweiten epidemiologischen Großstudie HYDRA (Hypertension and Diabetes Risk Screening and Awareness Study), die am 13. Juni 2002 auf einer Pressekonferenz am Klinikum Großhadern der Universität München vorgestellt und diskutiert wurde. Mit 1.912 teilnehmenden Allgemeinarztpraxen und 45.125 untersuchten Patienten stellt HYDRA die weltweit größte und wohl differenzierteste Untersuchung ihrer Art dar. Die Studie wurde durch einen 'unrestricted educational grant' von SanofiSynthelabo, Berlin, unterstützt.
Wertvolle wissenschaftliche Datenbasis
HYDRA beschreibt und quantifiziert erstmals umfassend und bundesweit die Versorgungslage und Therapiesituation von Patienten mit Bluthochdruck (arterieller Bluthochdruck) und Diabetes mellitus. Nach Angaben von Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Dresden/ München, und den anderen Wissenschaftlern der Studienleitung (Prof. Göke, Prof. Lehnert, Prof. Ritz, Prof. Unger, Prof. Kirch, Prof. Sharma, Prof. Tschöpe, siehe Anhang), liefert die Studie neue und unabdingbare Erkenntnisse zur Häufigkeit, Dauer und Schwere der beiden Erkrankungen. Sie informiert zudem über die aktuelle Qualität der hausärztlichen Versorgung u.a. hinsichtlich Diagnosegüte, Therapie sowie dem angesichts der Altersstruktur ansteigenden Versorgungsaufwand und -bedarf.
Die HYDRA-Daten erlauben eine verbesserte Feinabstimmung von Leitlinien und Disease Management Programmen (DMP). Dies gilt besonders für die speziellen Therapie- und Versorgungsbedürfnisse der überaus häufigen älteren Patienten, die häufig an vielen Erkrankungen gleichzeitig leiden. Als wichtig hinsichtlich verbesserter Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen sehen die Experten auch die Erkenntnisse zu typischen - und oft krankheitsinadäquaten - Einstellungen von Ärzten und Patienten gegenüber den Erkrankungen, ihren Ursachen und Therapieerfordernissen.
Mehrstufiger Studienaufbau (klinisch epidemiologisch)
Schritt 1: In der ersten HYDRA Erhebungsstufe (Vorstudie) wurden im Frühjahr 2001 zunächst die über 2000 repräsentativ ausgewählten Arztpraxen zu ihrer Praxiserfahrung, den diagnostischen und therapeutischen Gewohnheiten, ihren Patienten und etwaigen Spezialisierungen bei Diabetes und Bluthochdruck und Folgeerkrankungen befragt.
Schritt 2: Nach der darauf folgenden methodischen Schulung der Ärzte durch die HYDRA-Studienmonitore wurden im zweiten Schritt an den Studientagen (18. bzw. 20. September 2001) alle Patienten der Studienärzte mittels eines Fragebogens zu Beschwerden, Krankheiten, Therapie sowie ihrem Krankheits- und Gesundheitsverhalten befragt. Dabei lag ein Schwerpunkt auf Fragen zu Blutdruck, Diabetes und Folgeerkrankungen.
Schritt 3: Im dritten abschließenden Teil von HYDRA wurden alle teilnehmenden 45.000 Patienten auch ärztlich untersucht, relevante Laborwerte erhoben und zusammen mit der ärztlichen Gesamtbeurteilung zu Diagnostik, Therapie und Compliance abschließend bewertet. Der statistische Abgleich dieser umfangreichen arzt-, patienten- und versorgungsstrukturellen Daten ermöglicht erstmals wesentlich differenziertere Aussagen als frühere Untersuchungen.
Der an vielen Erkrankungen gleichzeitig leidende Patient (multimorbide) ist der Regelfall - der komplikationslose reine Bluthochdruck- und Diabetespatient scheint selten zu sein!
Nahezu jeder 2. Hausarztpatient - bei den über 60jährigen mehr als 65% - erhielt die Diagnose Bluthochdruck. Diabetes mellitus wurde bei fast jedem 5. Patient, überwiegend zusammen mit der Zusatzdiagnose Bluthochdruck diagnostiziert.
Nahezu 80% dieser Patienten haben zusätzlich zu ihrer Grunderkrankung zumeist mehrere weitere Krankheiten. Ausgeprägte Multimorbidität ist also die Regel in der ärztlichen Versorgung - 17% der Patienten mit Bluthochdruck und Diabetes wiesen mehr als sechs verschiedene Diagnosen auf. Dramatische und zumeist vielfache Risikoerhöhungen ergeben sich für Folgeerkrankungenvon Herz- und Kreislauf wie Vergrößerung des linken Herzens (Linksherzhypertrophie), Erkrankung des Herzkranzgefäße (koronare Herzkrankheit) und Herzschwäche, arterielle Verschlusskrankheit (Avk) und Schlaganfall (zerebraler Insult).
Laut Prof. Tschöpe aus dem Deutschen Diabetes Forschungsinstitut Düsseldorf kommt ein Unglück selten allein. "Die klinische Phänomenologie und Komorbidität kann bei Diabetikern patientenindividuell sehr unterschiedlich sein und sollte in einem dementsprechenden individualisierten Therapieplan unter fortlaufender Kontrolle des Therapieerfolgs Berücksichtigung finden." Als typische Diabetes - Begleit- bzw. Folgeerkrankungen finden sich häufig der diabetische Fuß, Retinopathie (Erblindung), Neuropathie, Linksherzhypertrophie, Nephropathie (Nierenversagen), Adipositas (massives Übergewicht) und Amputationen.
Dies verdeutlicht, dass der Hausarzt nicht als Ausnahmesituation, sondern als Regelfall bei diesen Patienten äußerst komplexe diagnostische und therapeutische Situationen vorfindet. Es ist fraglich, ob die aktuellen Leit- bzw. Richtlinien der tatsächlichen Größenordnung sowie den Versorgungserfordernissen der verschiedenen und komplexen Hochrisiko Patientengruppen ausreichend berücksichtigen. Ebenso ist zu klären, ob die geringe Stichtagsprävalenz "reiner" Hypertoniker und Diabetiker in der HYDRA-Studie nicht auf unerkannte und bislang nicht diagnostizierte Patienten in den jüngeren Altersgruppen zurückzuführen ist.
Beispiel Nierenschädigung bei Patienten mit Bluthochdruck und Diabetes
Eine Reihe von Markern hat sich bei der Bestimmung des Risikoprofils der Patienten in Allgemeinpraxen bewährt. Hierzu gehört die Mikroalbiminurie-Testung als guter Hinweis auf eine Nierenschädigung. Hierunter versteht man den Verlust minimalster Eiweißmengen über den Urin, ausgelöst durch strukturelle Schäden an den Nieren. Die Mikroalbuminurie ist ein Marker sowohl für die diabetische Nierenschädigung (Nephropathie) als auch für Erkrankungen an den größeren Gefäßen (makrovaskuläre Erkrankungen) und ist ein Risikofaktor für vorzeitigen Tod durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Das Vorliegen einer Mikroalbuminurie oder einer Albuminurie (s.o.) macht es erforderlich, nach Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu suchen und gegebenenfalls eine Behandlung einzuleiten: den Blutzucker strenger einstellen, selbst geringfügig erhöhte Blutdruckwerte zu senken, sowie die Eiweißzufuhr zu begrenzen. "Stellt man frühzeitig die Diagnose einer diabetischen Nierenerkrankung, kann das Fortschreiten zur Dialysepflicht noch wirkungsvoller abgebremst werden", so Prof. Ritz, Direktor des Rehabilitationszentrums für Chronisch Nierenkranke an der Universität Heidelberg.
Die Hydra Vorstudie zeigt, dass derartige Markeruntersuchungen noch zu selten eingesetzt werden. Nahezu 50% aller Ärzte geben an, "nie oder nur gelegentlich" auf Mikroalbumnurie zu testen. Am Untersuchungstag der HYDRA-Studie wurden alle Patienten getestet und eine Mikroalbuminurie bei ca. 15% der 16-50jährigen, mit einem Anstieg auf ca. 30% bei den über 80jährigen festgestellt. Die Diagnose der Ärzte weicht jedoch oft von diesem klinischen Befund ab: Nur in etwa. einem Drittel der Patienten mit nachgewiesener Mikroalbuminurie stellen sie die Diagnose Nephropathie. Die Nierenschädigung wird also in ihrem frühesten Stadium zu selten erkannt. Medikamente, die den Fortschritt der Nierenschädigung verzögern können (AT1-Antagonisten, ACE-Hemmer), sollten häufiger eingesetzt werden.
Beispiel Bluthochdruck - das klinisch Notwendige wird in der Praxis nicht umgesetzt
Trotz der Häufigkeit der Erkrankung (etwa jeder 2. Hausarzt-Patient) bei vielfältigen Therapiemöglichkeiten, ist die Güte der Einstellung in der Praxis nicht zufriedenstellend: etwa die Hälfte der Patienten in der hausärztlichen Versorgung ist schlecht eingestellt. HYDRA weist durch den Abgleich der ärztlichen Diagnose mit den Blutdruckwerten vor allem auf drei Problemkreise hin:
(1) Häufig - besonders bei jüngeren Patienten sowie Patienten ohne akute Beschwerden - werden die hypertensiven Patienten nicht als solche erkannt (10-27%) und somit nicht behandelt.
(2) Auch von den diagnostizierten und medikamentös behandelten Hypertonikern sind fast die Hälfte (42%) nach wie vor hypertensiv.
(3) Patienten, die ausschließlich nicht-medikamentös behandelt werden, weisen viel häufiger eine schlechtere Einstellung auf als diejenigen, die mit Antihypertensiva behandelt werden.
Erschwerte Therapie von Bluthochdruck und Diabetes mellitus bei Begleiterkrankungen
Die medikamentöse Betreuung der Patienten scheint oftmals suboptimal, die geforderten nicht medikamentösen Strategien defizitär zu sein. HYDRA zeigt, dass das Vorliegen mehrerer Erkrankungen offensichtlich eine gute Einstellung von Diabetes und Bluthochdruck erschwert. Liegen beispielsweise zwei bis drei zusätzliche Diagnosen zur "Basisdiagnose" Diabetes vor, ist der Anteil von schlecht eingestellten Diabetikern im Vergleich zu den Patienten ohne Zusatzdiagnosen um fast das Achtfache erhöht. "Der multimorbide und unzureichend eingestellte Risikopatient ist der Regelfall in der primärärztlichen Versorgung! Multimorbidität erschwert die Behandlung der Hypertonie und des Diabetes gravierend", so Prof. Lehnert aus Magdeburg.
Aus den engen Zusammenhängen zwischen unzureichender medikamentöser Einstellung mit spezifischen Mustern der Multimorbidität sowie mangelhaftem Krankheitswissen und Compliance auf Seiten der Patienten lassen sich möglicherweise effektivere patienten- und krankheitsgerechtere Behandlungsstrategien ableiten. Priorität in Hinblick auf kosteneffizientere Strategien ist dabei neben der Früherkennung und -intervention von Bluthochdruck und Diabetes vor allem die Verhinderung der Progression zu besonders kostenintensiven Folgeerkrankungen.
"Angesichts der derzeitig ansteigenden Größenordnung komplex erkrankter Patienten und dem sich daraus ergebenden Versorgungsbedarf läßt HYDRA viele Verbesserungsansätze, aber nur wenige unmittelbar wirkame, kostensenkende Lösungsstrategien erkennen", so eine abschließende Bemerkung von Prof. Wittichen, Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden.
Anhang
Ansprechpartner für verschiedene HYDRA-Inhaltsbereiche |
Name/Telefon |
Adresse |
Schwerpunkt |
Prof. Dr. med. B. Göke Tel.: 089/70952391 |
Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik II - Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians- Universität München Marchioninistraße 15 81377 München
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Deutsche Diabetes Gesellschaft |
Prof. Dr. Dr. W. Kirch Tel.: 0351 /4582008 |
Institut für Klinische Pharmakologie Medizinische Fakultät Dresden Fiedlerstraße 27 01301 Dresden
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Public Health, Klinische Pharmakologie |
Prof. Dr. med. H. Lehnert Tel.: 0391/6715445
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Direktor der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselkrankheiten Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Straße 44 39120 Magdeburg |
Versorgungsstrategien, Leitlinien |
Prof. Dr. Dr. med. hc. mult. E. Ritz Tel.: 06221/911244
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Direktor des Rehabilitationszentrums für Chronisch Nierenkranke - Nephrologie Klinikum der Universität Heidelberg Bergheimer Straße 56a 691 15 Heidelberg |
Nephropathie, Mikroalbuminurie |
Prof. Dr. A. M. Sharma Tel.: 030/94172202
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Abteilung für Nephrologie, Hypertensiologie und Genetik Franz-Volhard-Klinik Universitätsklinikum der Charite Wiltbergstraße 50 13125 Berlin |
Adipositas und Hypertonus |
Prof. Dr. med. D. Tschöpe Tel.: 0211/3382665
|
Deutsches Diabetes-Forschungsinstitut an der Heinrich-Heine-Universität Deutsche Diabetes Klinik Auf'm Hennekamp 65 40225 Düsseldorf |
Komorbidität, Herz und Diabetes |
Prof. Dr. med. Th. Unger Tel.: 030/450525001 |
Uniklinikum Medizinische Fakultät der Charité Dorotheenstraße 94 101 17 Berlin |
Hypertonie, Leitlinien,Hochdruckliga |
Prof. Dr. H.-U. Wittchen Tel.: 0351 /46339683 |
Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden Chemnitzer Straße 46 01187 Dresden |
Studiendesign, Methodik, Epidemiologie
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Weitere Übersichten zur Hydrastudie:
Quelle: Pressemitteilung zur HYDRA-Studie mit Statements der Experten
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