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    Verbreitung des Diabetes mellitus in Deutschland
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    Verbreitung des Diabetes mellitus in Deutschland

    Der Diabetes mellitus zählt seit langem zu den großen »Volkskrankheiten«. Deswegen und aufgrund ihrer hohen Begleit- und Folgemorbidität beansprucht diese Krankheit zwischen 5 und 10% aller Ausgaben in den Gesundheitssystemen der Industrieländer (27). Die derzeitige gesundheitspolitische Diskussion um die sinnvollste Verteilung der begrenzten finanziellen Ressourcen ist darauf angewiesen, daß möglichst detaillierte und verläßliche Angaben zur Verbreitung dieser Krankheit zur Verfügung stehen.


    Hier eine Übersicht über diesen Artikel


    Da zwischen verschiedenen Ländern erhebliche Unterschiede in der Prävalenz (A.d.R.: siehe unten) und Therapie des Diabetes mellitus bestehen, ist es außerordentlich wichtig, auf nationale Daten zurückgreifen zu können. Entgegen häufiger Klagen gibt es hierzulande verschiedene Datenquellen, die eine relativ gute Abschätzung der Diabetesinzidenz und -prävalenz erlauben. Ziel dieser Übersicht ist es, die für die Bundesrepublik Deutschland verfügbaren Daten zusammenfassend darzustellen sowie auf erkennbare Trends in der Verbreitung dieser Erkrankung hinzuweisen.

    Prävalenz des Diabetes mellitus in Deutschland

    In der Tab. 1 werden die wichtigsten deutschen Studien zur Prävalenz und Inzidenz des Diabetes mellitus vorgestellt. Im folgenden sollen einige dieser Studien näher beschrieben werden.

    Tab.1 Wichtigste Studien zur Prävalenz und Inzidenz des Diabetes mellitus in Deutschland

    Studie
    Stichprobe
    Alter
    Methode
    Zeitraum
    (%)
    Prävalenz          
    Nationales Diabetesregister der ehem. DDR (19) Gesamtbevölkerung unbegrenzt BZ, OGTT 1987 4,1
    Münchener Diabetes-Früherfassung (18) Bevölkerung Münchens unbegrenzt Fragebogen, UZ, OGTT 1967/68 2,0
    Auswertung von Routinedaten der AOK-Deutschland (11) 5% Zufallsstichprobe unbegrenzt Verordnungen, Diagnosen 1988 4,8
    AOK/KV Hessen 18,5% Zufallsstichprobe unbegrenzt 1998-2001 6,9
    Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (15) 4 bevölkerungsbezogene Gesundheitssurveys 25-69 Diabetesfrage 1984-91

    M 5,3

    F 4,6

    Inzidenz          
    Nationales Diabetesregister der ehem. DDR (20) Gesamtbevölkerung 0-14 BZ 1985-89 7,4*
    Baden-Württemberg-Studie Bevölkerung BW 0-14 BZ 1987-93 11,6*
    Region Düsseldorf EURODIAB-ACE-Studie (25) Region Düsseldorf 0-14 BZ 1993-95 13,4*

    * bezogen auf 100 000 Personen und Jahr

    BZ = Blutzucker, OGTT = oraler Glukosetoleranztest, UZ = Urinzuckermessung




    Münchner Diabetes-Früherkennungsaktion

    Die Münchner-Diabetes-Früherkennungsaktion wurde bereits 1967/1968 im Stadtgebiet München durchgeführt (18). Jeder Einwohner - vom Säugling bis zum Greis - erhielt per Post einen Harnzucker-Teststreifen und wurde gebeten, den Streifen nach erfolgtem Test zusammen mit wenigen anamnestischen Angaben zurückzusenden. 72% der Münchner beteiligten sich an dieser Aktion. 2 % der Teilnehmer gaben an, daß bei ihnen ein Diabetes bekannt sei, weitere 1,33% waren erstmalig entdeckte Verdachtsfälle mit Glucosurie. Auf der Grundlage einer Nachuntersuchung mit oraler Glucose belastung beim Hausarzt ergab sich schließlich eine Prävalenz neuentdeckter manifester Diabetiker von knapp 1 %, die als wichtigstes Kennzeichen ein deutlich höheres Körpergewicht aufwiesen als testnegative Kontrollpersonen (18). Der größte Nachteil des damals verwendeten Glucosurie-Screenings war die niedrige Sensitivität dieses diagnostischen Tests, das heißt es ist von einer nicht unerheblichen Zahl falsch-negativer Fälle auszugehen. Das Glucosurie-Screening wird daher heute für die Diagnostik des Diabetes mellitus kaum noch verwendet.

    Nationale Befragungs- und Untersuchungs-Surveys der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie

    Im Rahmen der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP) wurden zwischen 1984 und 1991 in den alten Bundesländern vier bevölkerungsrepräsentative Gesundheitssurveys in der Altersgruppe der 25- bis 69jährigen durchgeführt. Der dabei eingesetzte standardisierte Fragebogen enthielt auch die Frage » Haben oder hatten Sie jemals eine Zuckerkrankheit, Diabetes?« In den drei nationalen Untersuchungssurveys zwischen 1984 und 1991 fand außerdem eine medizinische Untersuchung einschließlich einer Spontanblutzuckermessung statt. Die Teilnahmequote in den 4 Teilstudien lag zwischen 66,0 und 71,4%. Bei den Männern gaben zwischen 4,3 und 5,3%, bei den Frauen zwischen 3,9 und 4,6% an, daß bei ihnen jemals ein Diabetes mellitus festgestellt worden war. Besonders interessant war die Sozialschichtabhängigkeit der Diagnose: Bei den Männern war die Diabeteshäufigkeit in der »Unterschicht« 2,7fach höher als in der »Oberschicht«, bei den Frauen fand sich in der »Unterschicht« sogar eine 4,2fach höhere Prävalenz (15). Untersuchungen zur Validität solcher Selbstangaben zeigten eine relativ niedrige Sensitivität, so daß damit die tatsächliche Prävalenz eher unterschätzt wird. Die Antworten zum Diabetes waren nur dann ausreichend valide, wenn der Diabetes medikamentös behandelt wurde (3). Solche Studien zur subjektiven Morbidität (A.d.R.: Erkrankungshäufigkeit) sind daher nur bedingt für die Abschätzung der Diabetesprävalenz tauglich.

    Auswertung von Krankenkassendaten

    In der ambulanten Medizin werden fast alle medizinischen Leistungen einschließlich der Verordnungen nach dem Einzelvergütungsprinzip abgerechnet. Die dafür vorgesehenen Behandlungsscheine müssen Diagnosen bzw. Angaben zum Behandlungsanlaß sowie das Datum der Leistungserbringung enthalten. Durch Erfassung diabetesrelevanter Leistungsziffern, Verordnungen von Antidiabetika und Diagnosen können auch Rückschlüsse auf das Vorliegen eines Diabetes mellitus gezogen werden (6). In einer retrospektiven Analyse wurden kürzlich die Daten einer repräsentativen 5%-Stichprobe aller Versicherten der AOK Dortmund ausgewertet und nach Standardisierung für die Bevölkerung Westdeutschlands eine Prävalenz des bekannten Diabetes von 4,8 % für das Jahr 1988 ermittelt (11). Ab dem 40. Lebensjahr stieg die Diabetesprävalenz zunächst bei den Männern, etwa 10 Jahre später auch bei den Frauen steil an. Im Alter über 60 Jahren lag die Gesamtprävalenz zwischen 12 und 20%, wobei Frauen häufiger betroffen waren. Vorteile dieser Methode sind die 100%ige Erfassungssicherheit und das Fehlen eines Untersucher-Bias bei insgesamt vertretbaren Kosten. Von Nachteil ist, daß die Aussagen im strengen Sinn nur für die Versicherten der AOK repräsentativ sind und die Erfassung nicht-medikamentös behandelter Diabetiker problematisch ist. Nicht auszuschließen ist ferner, daß die Diagnose Diabetes aus abrechnungstechnischen Gründen zu häufig genannt wurde. Der Vergleich dieser Sekundärdatenanalyse mit den Ergebnissen des nationalen Diabetesregisters der ehemaligen DDR (siehe unten) zeigte allerdings eine auffallend gute Übereinstimmung (5).

    Mit der gleichen Methodik wurde im Zeitraum 1998-2001 eine 18,5% Zufallsstichprobe aller AOK-Versicherten im Bundesland Hessen gezogen. Dort wurden 6,9% aller Versicherten wegen eines Diabetes mellitus behandelt. Der jährliche Prävalenzzuwachs lag in diesem Zeitraum bei knapp 5%. Auffällig war außerdem, dass fast 2% der untersuchten Personen mit Insulin behandelt wurden. (5a).

    Nationales Diabetesregister der ehemaligen DDR

    Ende der 60er Jahre wurde in Ostdeutschland ein weltweit einzigartiges Diabetesregister eingerichtet, mit dem eine landesweite Totalerfassung aller Diabetiker realisiert wurde. Zwischen 1960 und 1989 wurden jährlich alle Neuerkrankungen, der Gesamtbestand und alle verstorbenen Diabetiker, aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und Therapieart, zentral erfaßt. 1989, im letzten Jahr des Registers, wurde in Ostdeutschland eine Gesamtprävalenz von 4,14% registriert. Im Alter über 60 Jahren hatten zwischen 12 und 19% der Bevölkerung einen bekannten Diabetes mellitus (19). Die Zuverlässigkeit dieser Zahlen hängt von der Meldesicherheit ab. Diese lag nach Eigenangaben bei 98%, was angesichts der damaligen Bedingungen mit einem flächendeckenden Angebot von Diabetesambulanzen plausibel erscheint. Das Diabetesregister wurde nach der deutschen Wiedervereinigung nicht weitergeführt.

    Andere Datenquellen

    Ein vergleichsweise einfacher, wenngleich nur grober Ansatz zur Abschätzung der Diabetesprävalenz ist die sogenannte »drug utilization«-Methode. Dabei geht man vom bekannten Absatz bestimmter Medikamente aus. Kennt man die verwendete mittlere Tagesdosis eines blutzuckersenkenden Medikaments in einer definierten Region, dann läßt sich daraus die Zahl der Patienten ermitteln, die mit diesem Medikament behandelt wird, bzw. die Prävalenz für die jeweilige Gesamtpopulation errechnen. Nach diesem Verfahren schätzten Lorenz und Hillebrand kürzlich, daß 1992 in Deutschland rund 3,5 Millionen Menschen oder 4,4% der Bevölkerung an Diabetes mellitus erkrankt waren (17). Dieser Ansatz ist für die Anzahl insulinbehandelter Diabetiker relativ zuverlässig. Schwieriger ist dagegen die Schätzung der oral medikamentös therapierten Diabetiker, weil die Dosierungen erheblich schwanken und nicht immer kontinuierlich therapiert wird (von Ferber, unveröffentlichte Beobachtung). Diese Methode hat außerdem den großen Nachteil, daß sie die diätetisch behandelten Diabetiker gänzlich unberücksichtigt läßt.

    Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen

    Für das Jahr 1988 errechneten Michaelis und Mitarbeiter (20) aufgrund der ostdeutschen Registerdaten bei Kindern und jugendlichen im Alter unter 20 Jahren eine Gesamtprävalenz von 0,72 % oder in absoluten Zahlen von 12 634 Typ 1 Diabetiker. Mit einem anderen methodischen Ansatz an der deutlich kleineren Stichprobe von 25520 AOK-Versicherten der Stadt Dortmund im Alter unter 20 Jahren fanden wir für das Jahr 1990 eine Gesamtprävalenz von 0,98% Insulinempfängern, bei denen es sich fast ausschließlich um Typ 1 Diabetiker handeln dürfte (13). Legt man diese Prävalenz zugrunde, so erhält man eher eine Zahl von knapp 20000 Typ 1 Diabetikern in dieser Altersgruppe.


    Aufgrund der verfügbaren epidemiologischen Studien ergibt sich für Deutschland eine Gesamtprävalenz des Diabetes mellitus von derzeit 7% der Bevölkerung oder 6 Millionen Personen. Erst im Alter über 40 Jahren kommt es zum raschen Anstieg der Diabetesprävalenz auf bis zu knapp 30% im Alter über 60 Jahren. Während die Diabeteshäufigkeit bei den Männern im Alter unter 60 Jahren niedriger ist als bei den Frauen, kehrt sich dieses Verhältnis bei den über 60jährigen um. Die Prävalenz des Typ 1 Diabetes im Alter unter 20 Jahren liegt in Deutschland bei etwa 0,1 %.


    Inzidenz des Diabetes mellitus in Deutschland

    Das Nationale Diabetesregister der ehemaligen DDR stellt die einzige Studie dar, die eine gute Inzidenzabschätzung in allen Altersklassen erlaubt. Dabei fand sich eine altersabhängige Zunahme der Diabetesinzidenz. Bei den 40-bis 49jährigen lag diese Ende der 80er Jahre bei 200 bis 300/100000 Personenjahre, bei den 50- bis 59jährigen bei 700 bis 800/100 000 Personenjahre und bei den 60jährigen und älteren Personen bei etwa 1200/100000 pro Jahr.

    Auch zur Inzidenz des Typ 1 Diabetes mellitus bei Kindern und Jugendlichen wurden im ostdeutschen Diabetesregister kontinuierlich umfangreiche Daten gesammelt. Für den Zeitraum 1985 bis 1989 wurde in der Altersgruppe 0 bis 14 Jahre eine Inzidenz des Typ 1 Diabetes von 7,4 (95%-Konfidenzintervall [ KI95%] 7,0- 7,8)/100 000 Personenjahre bei gleicher Geschlechtsverteilung berichtet (20). Für diesen Personenkreis liegen auch Zahlen aus Westdeutschland vor, die im Vergleich zu den ostdeutschen Daten für eine höhere Inzidenz des Typ 1 Diabetes sprechen.

    In einer retrospektiven Inzidenzstudie aus Baden-Württemberg, in der die Definitionskriterien der EURODIAB-ACE-Studiengruppe (8) verwendet wurden, wurde für die Altersgruppe der 0- bis 14jährigen Kinder und Jugendlichen im Zeitraum 1987 bis 1993 eine Neuerkrankungsrate von 11,6 (10,8-12,1)/100 000 Personenjahre ermittelt (22). Rosenbauer und Giani (25) fanden in der Region Düsseldorf im Zeitraum 1993 bis 1994 eine Inzidenz des Typ 1 Diabetes bei Kindern und Jugendlichen im Alter unter 15 Jahren von 13,4 (11,0-16,2)/100000 Personenjahre. Die Gründe für diese Unterschiede sind nicht klar, weil bis heute der Einfluß von Umgebungsfaktoren nur unzureichend definiert ist. In einer Fall-Kontroll-Studie wird daher in der Region Düsseldorf derzeit analysiert, welche Einflußfaktoren bei der Diabetesentstehung von Bedeutung sein könnten. Daneben wurden bereits von Michaelis und Mitarbeitern (20) für das Gebiet der ehemaligen DDR erhebliche regionale Unterschiede beschrieben. Ostberlin wies zwischen 1985 und 1989 die höchste Inzidenzrate von 10,4 (8,7-12,4)/100 000 Personenjahre auf, in den dünn besiedelten, ländlichen Regionen lag die Neuerkrankungsrate dagegen deutlich niedriger. Dieses Phänomen wurde auch durch die ESPED-Studie (Erfassung seltener pädiatrischer Erkrankungen in Deutschland) bestätigt (26). Es handelt sich dabei um eine bundesweite Untersuchung, in der 1993 und 1994 auch die Inzidenz des Typ 1 Diabetes im Alter unter 5 Jahren erfaßt wurde. Die Untersucher berichteten eine Inzidenzrate von 6,6 (6,0-7,1)/100 000 Personenjahre, die mehr als doppelt so hoch lag wie die Diabetesinzidenz in Ostdeutschland im Jahr 1988 mit 2,7 (1,8-3,8)/100 000. Die geographische Verteilung der Inzidenzraten zeigte ein deutliches Nord-Süd-, aber kein West-Ost-Gefälle (26)


    Die Inzidenz des Diabetes mellitus ist bei den über 60jährigen mit etwa 1200/100000 Personenjahre am höchsten. Die Inzidenz des Typ 1 Diabetes in der Altersgruppe 0 bis 14 Jahre lag Ende der 80er Jahre in Ostdeutschland bei 7,4/100 000 Personenjahre. Kinder und Jugendliche der gleichen Altersgruppe in westdeutschen Bundesländern wiesen eine deutlich höhere Neuerkrankungsrate auf (Baden-Württemberg 1987-93: 11,6/100000 Personenjahre, Nordrhein-Westfalen 1993/ 94: 13,4/100000 Personenjahre).


    Trends von Diabetesinzidenz und -prävalenz in Deutschland

    Die zeitliche Entwicklung der Diabetesinzidenz und -prävalenz in den letzten Jahrzehnten läßt sich am besten an den Daten des ostdeutschen Diabetesregisters verfolgen. Michaelis und Mitarbeiter (19) berichteten, daß die Gesamtzahl der Diabetiker in Ostdeutschland zwischen 1960 und 1987 um das 6,2fache zunahm. Während dort vor allem bis 1978 in allen Altersklassen ein deutlicher Inzidenzanstieg zu verzeichnen war, veränderte sich die Diabetesinzidenz bei Frauen im Alter über 50 Jahren zuletzt nicht mehr, auch der Anstieg bei den Männern schwächte sich deutlich ab. Im Gegensatz hierzu ist die Gesamtprävalenz im Verlauf der 28jährigen Beobachtungsperiode kontinuierlich gestiegen, wobei das Geschlechtsverhältnis weitgehend konstant blieb (Männer:Frauen= 1 :1,85 ).

    Für Westdeutschland lassen sich aufgrund der wenigen verfügbaren Daten nur Aussagen zu Veränderungen der Gesamtprävalenz machen. Austenat und Schräder (2) werteten in einer älteren Analyse GKV-Daten der AOK Ingolstadt aus dem Jahr 1975 aus und fanden eine Prävalenz von 1,8 % mit Antidiabetika behandelten Versicherten in der untersuchten Population. Selbst wenn man kleine methodische Unterschiede und ein Großstadt-Land-Gefälle berücksichtigt, hat sich die Prävalenz medikamentös behandelter Diabetiker im Vergleich zu den Zahlen der AOK Dortmund (11) innerhalb von 13 Jahren etwa verdoppelt. Im Zeitraum von 1988 bis 2001 fand sich in der AOK-Population ein Anstieg der standartisierten Gesamtprävalenz des Diabetes von 43% (5a).

    Die Gründe für diesen Anstieg sind vielfältig. Sicherlich spielt die Zunahme der Adipositas (A.d.R.: starkes Übergewicht), des wichtigsten Manifestationsfaktors überhaupt, sowie des Bewegungsmangels eine große Rolle. Andererseits ist bekannt, daß die mittlere Krankheitsdauer eines Diabetikers in den letzten Jahrzehnten vor allem in den älteren Jahrgängen deutlich angestiegen ist (29). Die längere Überlebenszeit dürfte dabei nicht nur auf eine verbesserte medizinische Versorgung, sondern auch auf eine frühere Diagnosestellung zurückzuführen sein. Tab. 2 enthält eine eher vorsichtige Schätzung der Verbreitung des Diabetes mellitus in Deutschland anhand des verfügbaren Datenmaterials.

    Tab. 2 Prävalenz des bekannten Diabetes mellitus in Deutschland nach Therapieart*

     
    Gesamtzahl
    Prävalenz (%)
    alle Diabetiker 5,8-6,000 000 7
    davon insulinbehandelte Diabetiker 1,600 000 2
    davon Typ 1 Diabetiker min. 400 000 0,6
    oral medikamentös behandelte Diabetiker** 2 600 000 3
    nicht medikamentös behandelte Diabetiker 1 600 000 2

    * geschätzt nach verschiedenen epidemiologischen Datenquellen

    ** durchgehend in therapeutischer Dosierung behandelt



    Bei den Typ 1 Diabetikern fällt auf, daß die Inzidenzrate bei den 0- bis 9jährigen im Zeitraum 1960 bis 1975 um 12,6% pro Jahr anstieg und danach auf diesem Niveau verblieb. Bei den 10- bis 19jährigen fand sich dagegen im gesamten Beobachtungszeitraum ein kontinuierlicher Zuwachs von 3,8 % pro Jahr (20). Diese Zahlen stimmen relativ gut mit dem jährlichen inzidenzanstieg in anderen europäischen Ländern überein, während auf anderen Kontinenten ein solcher Inzidenztrend weniger deutlich war, obwohl auch dort die Erfassung des Typ 1 Diabetes weitgehend einheitlich nach den Kriterien der Diabetes Epidemiology Research International (DERI) Study Group erfolgte (16).

    Was die zukünftige Entwicklung anbetrifft, so gibt es auf der Basis der bisherigen Prävalenztrends Hochrechnungen, die von einer weiteren Zunahme der Zahl bekannter Diabetiker in Deutschland von mindestens 2,5% pro Jahr ausgehen. Anhand der Daten des ostdeutschen Diabetesregisters erwarten Salzsieder und Mitarbeiter (28) für dieses Jahrzehnt eine Zunahme der Gesamtprävalenz von 0,5%. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Lorenz und Hillebrand (17). Dieser Anstieg dürfte in den höheren Altersstufen stärker ausfallen als in den jüngeren. Stellt man in Rechnung, daß die derzeitige medizinische Versorgungssituation nach wie vor verbesserungsbedüftig ist (12 -14), so ist in den nächsten Jahren mit zusätzlichen Belastungen für das Gesundheitssystem zu rechnen, um die medizinische Versorgung dieser großen Patientengruppe sicherzustellen.


    Die Dunkelziffer des Diabetes mellitus

    Zur Zahl unerkannter Diabetiker existieren für Deutschland lediglich Daten aus der Augsburger KORA-Studie. Dort wurde 1999/2000 bei 55- bis 74jährigen Personen (n=1400) ohne bekannten Diabetes ein oraler Glukosetoleranzzeit durchgeführt. Überraschenderweise war die Prävalenz des neuentdeckten Diabetes in dieserAltersgruppe ähnlich hoch wie die des bekannten Diabetes (Rathmann W, Haastert B, Icks A, Lowel H, Meisinger C, Holle R, Giani G. High prevalence of undiagnosted diabetes efficient screening. The KORA survey 2000. Diabetologia 2003; 46:182-189 ).

    In einer Studie bei Altenheimbewohnern fand sich ebenfalls eine hohe Dunkelziffer (Hauner H., Kurnaz A. A., Haastert B., Groschopp C., Feldhoff K.-H.: Undiagnosed diabetes mellitus and metabolic control assessed by HbA1c among residents of nursing homes. Exp Clin Endocrinol Diabetes 2001; 109: 326-329).

    Die besten Daten zu diesem Thema stammen aus der nordamerikanischen NHANES-Studie, die 1976 bis 1980 an einer weitgehend repräsentativen Stichprobe im Alter zwischen 20 bis 74 Jahren durchgeführt worden war. Zusätzlich zu den 3,4% bekannten Diabetikern fand sich dort eine Prävalenz unerkannter Diabetesfälle von 3,2%. Weiter wurde eine Prävalenz von Personen mit gestörter Glukosetoleranz von 11,2% ermittelt (9). Studien aus Großbritannien (7, 34).berichteten ebenfalls einen hohen Prozentsatz unerkannter Diabetiker, vor allem in der Altersgruppe über 40. In einer kürzlich veröffentlichten holländischen Studie (21) an Personen im Alter zwischen 45 und 75 Jahren war die Prävalenz des unerkannten Diabetes mit 4,8% sogar höher als die Prävalenz bekannter Diabetiker von 3,5%. Ähnliche Zahlen wurden kürzlich bei Frauen im Alter von 55 Jahren gefunden. Betroffen waren insbesondere Personen mit deutlichem Übergewicht ("body mass index" > 30 kg/m2) oder Bewegungsmangel (24). Haupterklärung für die vermutlich auch gegenwärtig hohe Dunkelziffer des Diabetes mellitus in den Industrieländern dürfte sein, daß die Manifestation des Typ 2 Diabetes häufig symptomarm oder symptomlos verläuft. Dies hat zur Folge, daß der Typ 2 Diabetes oft erst im Rahmen einer Routineuntersuchung entdeckt wird. Es gibt Hinweise, daß zwischen eigentlichem Beginn des Diabetes und der Diagnosestellung in der Regel mehrere Jahre vergehen (10).

    Gestationsdiabetes (A.d.R.: Schwangerschaftsdiabetes)

    Leider liegen für Deutschland keine zuverlässigen Zahlen zur Häufigkeit des Gestationsdiabetes vor. Höheres Schwangerschaftsalter und die Zunahme der Adipositas bei gebärfähigen Frauen geben Anlaß zur Befürchtung, daß mit einer besonders hohen Dunkelziffer zu rechnen ist. Zahlen aus den Vereinigten Staaten weisen aus, daß in mindestens 4% aller Schwangerschaften ein Diabetes entsteht, der zu 88% auf einen Gestationsdiabetes zurückzuführen ist. Höheres Alter und hoher "body mass index" waren in dieser Studie die wichtigsten begünstigenden Faktoren (4).


    Dunkelziffer des Diabetes mellitus ist in Deutschland ähnlich hoch wie die Zahl bekannter Diabetiker. Beim Gestationsdiabetes wird eine besonders hohe Dunkelziffer vermutet.


    Vergleich mit anderen Ländern

    Der Vergleich der deutschen Zahlen zur Diabeteshäufigkeit mit Daten aus anderen europäischen Ländern ist nicht einfach, da unterschiedliche Methoden eingesetzt wurden und die Stichproben bzw. die Gesundheitssysteme kaum vergleichbar sind. So handelt es sich vielfach um Studien, die auf der Auswertung von Verordnungen bzw. dem Gebrauch von Antidiabetika basieren (23), so daß auch ländertypische Therapiegewohnheiten zu beachten sind. Dementsprechend schwanken die angegebenen Prävalenzraten zwischen 1,6, und 4,7%. Soweit überhaupt Verlaufsdaten vorliegen, ist die Diabetesprävalenz in den letzten 20 Jahren nahezu überall angestiegen. So nahm beispielsweise die Prävalenz des Diabetes in Schweden zwischen 1972 und 1987 um 65% zu (1).

    Wesentlich bessere Vergleichsdaten sind dagegen für die Inzidenz des Typ 1 Diabetes im Kindes- und Jugendalter verfügbar. Die EURODIAB ACE-Studie und das DIAMOND-Projekt der WHO mit Beteiligung von über 40 Ländern zeigen mit nahezu identischen Methoden eine erhebliche globale Variation der Diabetesinzidenz mit einem deutlichen Nord-Süd-Gefälle (8, 16). Für Mitteleuropa wurden Ende der 80er Jahre Inzidenzraten zwischen 6 und 12/100 000 Personenjahre mitgeteilt, die deutlich niedriger lagen als die in Skandinavien, aber höher als die in südeuropäischen Ländern mit Ausnahme von Sardinien (8).


    Bewertung epidemiologischer Studien

    Bei der Darstellung und Bewertung epidemiologischer Studien ist immer das methodische Vorgehen zu beachten. Ein großes Problem stellt grundsätzlich die Definition der Erkrankung dar. Obwohl es sich beim Diabetes mellitus um eine vergleichsweise schnell und zuverlässig diagnostizierbare Krankheit handelt, liegen den einzelnen Studien aufgrund der Besonderheiten des jeweiligen Datenmaterials höchst unterschiedliche Definitionen zugrunde. Sie reichen von Selbstangaben befragter Personen über die Analyse von Verordnungen von Antidiabetika bis hin zum oralen Clucosetoleranztest als diagnostischem Goldstandard. Je weicher die Definition ist, desto dringlicher ist die Überprüfung der Validität des jeweiligen Meßinstruments. Eine solche externe Validierung dient dazu, Unter- und Überschätzungen zu vermeiden und eine bessere Vergleichbarkeit von Studienergebnissen zu ermöglichen. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Definition der Stichprobe. Diese ist anhand soziodemographischer Variablen zu charakterisieren, dabei ist eine genaue Kenntnis ihres Bevölkerungsbezugs unverzichtbar.

    Auch die Differenzierung beider Hauptformen des Diabetes mellitus in Deutschland ist anhand der verfügbaren Diagnose- und Klassifikationskriterien grundsätzlich schwierig. Selbst bei Zuhilfenahme immunologischer Parameter ist eine sichere Zuordnung häufig nicht möglich. Nach eigenen Schätzungen sind etwa 5% aller Diabetiker dem Typ 1 und etwa 90% dem Typ 2 Diabetes zuzuordnen. Neuere Studien zur Verbreitung des »verzögerten Typ 1 Diabetes im Erwachsenenalter« (LADA) lassen aber vermuten, daß der autoimmun bedingte Insulinmangeldiabetes im Erwachsenendalter häufiger vorkommt als bisher angenommen und möglicherweise für 10% aller Diabetesmanifestationen im mittleren und höheren Lebensalter verantwortlich ist (32).


    Resümee

    Epidemiologische Daten sind nicht nur unverzichtbar, um die Verbreitung einer Krankheit zu kennen, sondern auch um den medizinischen Versorgungsbedarf abschätzen zu können. Verschiedene bevölkerungsbasierte Studien zeigen, dass derzeit rund 7% der deutschen Bevölkerung an einem bekannten Diabetes mellitus leiden. Aufgrund des in der Vergangenheit beobachteten Prävalenzanstiegs kann man davon ausgehen, daß derzeit rund 6 Millionen Bundesbürger zuckerkrank sind. Davon werden etwa 2,5 Millionen mit oralen Antidiabetika und etwa 1,6 Millionen Betroffene mit Insulin behandelt. Gut belegt ist ferner, daß die Inzidenz des Typ 1 Diabetes im Kindes- und Jugendalter in den letzten Jahrzehnten weiter zugenommen hat. Da auch die Gesamtprävalenz des Diabetes mellitus in nächster Zukunft steigen wird, ist ein noch gezielterer Einsatz der begrenzten finanziellen Mittel unumgänglich. Verläßliche epidemiologische Kenndaten zum Diabetes mellitus werden aus diesem Grund zunehmend an Bedeutung gewinnen.
    Prof. Hans Hauner,
    Else-Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin der Technischen Universität, München

    Quelle: Modifiziert nach einem Artikel in Deutsche Medizinische Wochenschrift, 123 (1998), 777-782

    Aktualisiert: April 2005



    Literatur:

    1 Andersson, D. K. G., K. Svärdsudd, G.Tibblin: Prevalence and incidence of diabetes in a Swedish community 1972-1987. Diabetic Med. 8 (1991), 428-434.

    2 Austenat. E., W F. Schräder: Ambulante Behandlung des Diabetes mellitus. Analyse auf der Basis von GKV-Daten. Strukturforschung im Gesundheitswesen, Band 18 (BASIC: Technische Universität Berlin 1986).

    3 Bormann, C.: Surveys als Informationsquelle für die Gesundheitsberichterstattung. Wie reliabel und valide sind die Selbstangaben zu Krankheiten - dargestellt am Beispiel des Diabetes mellitus? In Laasen U., F W. Schwartz (Hrsg.): Gesundheitsberichtserstattung und Public Health in Deutschland (Springer: Berlin 1992), 112120.

    4 Engelgau, M. M., R. R. German, W H. Herman, R. E. Aubert, P J. Smith: The epidemiology of diabetes and pregnancy in the U. S., 1988. Diab. Care 18 (1995),1029-1033.

    5 von Ferben L., E. Salzsieden H. Hauner, H. Thoelke, I. Köster, E. Jutzi, D. Michaelis, U. lascher: Diabetes prevalence from health insurance data. Evaluation of estimates by comparison with a population-based diabetes register. Diab. Metabol. 19 (1993), 89-95.

    5a Hauner H, Köster I, von Ferber L Prävalenz des Diabetes mellitus in Deutschland 1998 - 2001, Sekundärdatenanalyse einer Versichertenstichprobe der AOK Hessen/KV Hessen, Dtsch med Wochenschr 2003; 128: 2632-2637

    6 von Ferber, L. (Hrsg.): Häufigkeit und Verteilung von Erkrankungen und ihre ärztliche Behandlung. Epidemiologische Grundlagen eines Qualitätsmonitorings. (ISAB Schriftenreihe aus Forschung und Praxis Nr. 34, Köln-Leipzig, 1994).

    7 Forrest, R. D., C. A. Jackson, J. S. Yudkin: Glucose intolerance and hypertension in North London: the Islington Diabetes Survey. Diabetic Med. 3 (1986), 338-342.

    8 Green, A., E. A. M. Gale, C. C. Patterson: Incidence of childhood-onset insulin-dependent diabetes mellitus: the EURODIAB ACE study. Lancet 339 (1992 ), 905 -909.

    9 Harris, M.1., W. C. Hadden, W. C. Knowlen P H. Gennett: Prevalence of diabetes and impaired glucose tolerante and Plasma glucose levels in U. S. Population aged 20-74 yr. Diabetes 36 (1987), 523534.

    10 Harris, M. l.: Undiagnosed NIDDM: clinical and public health issues. Diab. Care 16 (1993), 642-652.

    11 Hauner H., L. von Ferben 1. Köster: Schätzung der Diabeteshäufigkeit in der Bundesrepublik Deutschland anhand von Krankenkassendaten. Sekundärdatenanalyse einer repräsentativen Stichprobe AOK-Versicherter der Stadt Dortmund. Dtsch. med. Wschr. 117 (1992), 645-65U.

    12 Hauner H., L. von Ferber, I. Köster: Ambulante Versorgung von Diabetikern. Eine Analyse von Krankenkassendaten der AOK Dortmund. Dtsch. med. Wschr. 119 (1994),129-134.

    13 Hauner H., L. von Ferben 1. Köster: Prävalenz und ambulante Versorgung insulinbehandelter Diabetiker im Alter unter 40 Jahren. Diab. Stoffes. 5 (1996),101-106.

    14 Hauner H.: Versorgungsqualität des Diabetes mellitus - Stand 1996. Med. Klin. 92, Supplement 1(1997), 9-12.

    15 Helmert, U., H. U. Janka, H. Strebe: Epidemiologische Befunde zur Häufigkeit des Diabetes mellitus in der Bundesrepublik Deutschland 1984 bis 1991. Diab. Stoffes. 3 (1994), 271-277.

    16 Karvonen, M., J. Tuomilehto, I. Libman, R. LaPorte: A review of the recent epidemiological data an the worldwide incidence of type 1 (insulin-dependent) diabetes mellitus. Diabetologia 36 (1993), 883-892.

    17 Lorenz, N., H. Hillenbrand: Wieviel Diabetiker gibt es in Deutschland? Diabetes Journal (1993), 4-B.

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