Der Hausarzt ist der Lotse für den Diabetiker
(19.01.2000) Ab dem kommenden Jahr steht mit dem Projekt "Diabetes aus der Forschung für die Praxis" ein audiovisuelles Fortbildungsprogramm zur Verfügung, das dem Hausarzt neue Forschungserkenntnisse über Diabetes mellitus für die tägliche Praxis vermittelt. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands -Hausärzteverband e.V. (BDA) und der Deutschen Diabetesgesellschaft (DDG) initiiert. Das CF-Journal im Gespräch mit Professor Dr. med. W. A. Scherbaum (DDG) zur Diabetikerversorgung in der Hausarztpraxis "Herr Professsor Scherbaum, das Projekt »Diabetes aus der Forschung für die Praxis« möchte dem Hausarzt aktuelles Wissen vermitteln, um seine Diabetes-Patienten besser zu behandeln. Wie ist es um die Kenntnisse des Allgemeinmediziners aus Ihrer Sicht bestellt?"
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die meisten Ärzte haben ihr Wissen über Diabetes mellitus während des Studiums bzw. während der ersten Jahre der Aus- und Weiterbildung erlangt. Danach haben viele von ihnen zum Teil überholtes Wissen nicht mehr aufgefrischt. Für Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus ist eine Aktualisierung jedoch unbedingt notwendig, insbesondere wegen neuer Definitionen für die Diagnostik und Therapie. Es ist deshalb wichtig, die aktuellen Forschungserkenntnisse dem Hausarzt zur Verfügung zu stellen, damit keine Lücke entsteht zwischen neuesten diagnostischen und therapeutischen Erkenntnissen und der realen Behandlungspraxis. Die Grundidee des Projektes »Diabetes aus der Forschung für die Praxis« ist deshalb, eben jene Wissenslücken zu schließen und die Interaktion zwischen Hausarzt und den verschiedenen Spezialisten zu fördern."
Redaktion: Das eingangs erwähnte Fortbildungsprojekt ist interdisziplinär angelegt. Welche Bedeutung messen Sie der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Diabetologen bei?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Spezialist ist enorm wichtig. Vor allem, weil Typ 2-Diabetiker die Basisbetreuung bei ihrem Hausarzt erhalten und nur bei bestimmten Facetten ihrer Krankheit diese Patienten für besondere diagnostische und therapeutische Maßnahmen zum Spezialisten überwiesen werden. Somit ist eigentlich der Hausarzt der Lotse für Diabetiker. Er muss wissen, wann, welche Maßnahmen erforderlich sind.
Redaktion: Für die Diabetesbehandlung sind von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) Leitlinien entwickelt worden. Was beinhalten diese Leitlinien und vor allem was bringen sie dem Hausarzt?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die Grundidee der Diabetes-Leitlinien der DDG ist, eine Strategie für die Langzeit-Betreuung von Diabetikern zu definieren. Dies geschieht auf Grundlage der Evidenz, d.h. auf Erkenntnissen, die wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen gewonnen haben. Die Diabetes-Leitlinien sollen auf drei Ebenen greifen. Zunächst auf der Expertenebene, wo diskutiert wird und wo der aktuelle Stand dargestellt wird. Wesentlich ist dann der Transport auf die zweite, die Anwenderebene. D. h. die Leitlinien definieren für den tätigen Arzt, welche Aufgaben Priorität besitzen. Daraus ergeben sich Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie. Die Diabetes-Leitlinien sollen darüber hinaus auf die dritte, die Patientenebene transportiert werden, natürlich einfacher formuliert, aber mit den gleichen Inhalten. Zusammenfassend gesagt, es entsteht mit Hilfe der Leitlinien ein durchgehendes System der Qualitätssicherung.
Redaktion: Der Arzt ist also gezwungen, sich an Therapieempfehlungen zu halten?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Wenn wir mit den verfügbaren Ressourcen eine hohe Qualität der Versorgung erhalten wollen, gibt es keinen anderen Weg, als solche Diagnose- und Therapieempfehlungen für Standardsituationen vorzusehen. Die Befolgung der Empfehlungen wird von den Kostenträgern durch die Verknüpfung mit der Budgetierung, zum Beispiel im Rahmen von Betreuungsverträgen durchgesetzt.
Redaktion:Läßt sich das am konkreten Beispiel verdeutlichen?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die Frage der sogenannten Schnittstellen zwischen einzelnen Betreuungsebenen wird an Qualitätsmerkmalen der Versorgung, sowohl Strukturqualität als auch an der Ergebnisqualität gemessen. Die auf Länderebene geschlossenen Diabetesverträge sehen vor dass Patienten mit bestimmten Formen von Diabetes, z.B. bei Überschreiten eines Grenzwertes des HBA1c über einige Zeit an Spezialisten auf diesem Gebiet überwiesen werden. Außerdem wurden Kriterien für die Notwendigkeit zur stationären Einweisung oder für die Überweisung an Fußambulanzen erstellt. Selbstverständlich kann einem nicht diabetologisch qualifizierten Hausarzt nicht verboten werden, beispielsweise Diabetiker mit Insulinpumpen zu behandeln. Wenn er jedoch keine Anerkennung dafür besitzt und damit nicht die strukturellen Voraussetzungen vorliegen, bekommt er für diese Leistung nichts budgetiert.
Redaktion: Ein wichtiges Thema für den Hausarzt ist der diabetische Fuß, Bei Patienten mit einem diabetischen Fuß-Syndrom tritt häufig eine Neuropathie auf, oft in Kombination mit einer Durchblutungsstörung. Was muss man bei Diagnosestellung einer Neuropathie wissen?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Beim diabetischen Fuß-Syndrom ist es wesentlich, einerseits nach der Neuropathie zu fahnden, andererseits aber auch zu beurteilen, welchen Einfluss die Durchblutungsstörung dabei hat, d.h. die angiopathischen Anteile abzugrenzen. Das ist insbesondere wichtig für therapeutische Maßnahmen, weil bestimmte Formen der Angiopathie eben anders zu behandeln sind und deswegen eine Zusatztherapie für die Versorgung des diabetischen Fuß-Syndroms erforderlich ist.
Redaktion: Wie sollte therapiert werden, wenn eine klassische Nervenschädigung vorliegt?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Zunächst ist für die Therapie des diabetischen Fuß-Syndroms die örtliche Behandlung, verbunden mit einer Druckentlastung wichtig. Das diabetische Fußsyndrom verlangt jedoch überdies eine komplexe interdisziplinäre Behandlung. Die stoffwechselbedingten Ursachen sind am besten mit einer Verbesserung der Blutzuckereinstellung zu beeinflussen. Je besser der Blutzucker eingestellt ist, umso besser ist auch die Prognose der Neuropathie auf lange Sicht. Dann gibt es eine ganze Reihe von medikamentösen Maßnahmen, die abgewogen werden müssen. Derzeit haben wir leider noch keine Medikamente zur Hand, die uns 100 %-ig voraussagen lassen, ob Patienten individuell auf bestimmte therapeutische medikamentöse Maßnahme besser ansprechen bezüglich der Neuropathie.
Redaktion: Ein weiteres Problem für den Hausarzt ist das »metabolische Syndrom«. Was sollte in der ärztlichen Praxis beachtet werden, um die verschiedenen Symptome dieses Syndroms möglichst rechtzeitig zu erkennen?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die Erkennung des metabolischen Syndroms ist nicht das Problem, sondern die Erkennung dessen, dass es sich hierbei um einen Komplex handelt, der auch durch eine einheitliche Strategie behandelt werden muss. Es ist leider immer noch oft festzustellen, dass in der allgemeinen Praxis jede einzelne Facette eines jeden Symptoms unabhängig voneinander diagnostiziert und therapiert wird. Die Folge ist, dass viele der Patienten mit metabolischem Syndrom mit einer Menge Tabletten hantieren und kein Arzt weiß genau, ob sie sie richtig einnehmen oder überhaupt einnehmen. Das metabolische Syndrom ist eine Wohlstandskrankheit und deshalb sehr gut beeinflussbar durch die Patienten selber. Ich meine, es ist ganz entscheidend, den Patienten mit metabolischem Syndrom auch deutlich zu machen, dass sie hier selber etwas tun können, um eine Gesamtbehandlung zu begünstigen.
Redaktion: Jährlich werden etwa 28.000 Amputation infolge des Diabetischen Fußsyndroms durchgeführt. Warum ist die Amputationsrate in Deutschland nach wie vor so hoch?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Dass die Amputationsrate in Deutschland so hoch ist, ist eine Katastrophe. Viele dieser Amputationen hätten bei adäquater Behandlung des Fußes verhindert werden können. Aber die Behandlung des diabetischen Fußes braucht Geduld, interdisziplinäre Kooperation und viel Fachverstand. Deswegen propagieren wir, dass wenn es zum diabetischen Fuß-Syndrom mit Ulcera gekommen ist, unbedingt der Spezialist einzuschalten ist, d.h. die Überweisung an eine Fußambulanz, die tagtäglich viele solcher Fälle mit vielen Facetten sieht. Ganz wesentlich bei der Behandlung des diabetischen Fußes ist, dass Diabetologen, Orthopäden und Angiologen an einem Strang ziehen. Ich möchte davor warnen, dass man in der Praxis diese zeitaufwendigen Behandlungen mit »kleiner Chirurgie« verwechselt.
Redaktion: Was könnte der Patient tun?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die Hauptgründe für das metabolische Syndrom sind Übergewicht, verminderte körperliche Betätigung, vermehrt Alkohol- und Nikotingenuss. Ein großes Problem ist die zu fettreiche Ernährung. In seinem Genussverhalten kann sich der Patient ändern, nur unsere Aufgabe muss sein, ihn daran zu erinnern und ihm zu sagen, in welchen Bereichen er eingreifen kann. Der Begriff "Zuckerkrankheit" erschwert hierbei allerdings die Behandlung. Denn viele Patienten vermeiden logischerweise den Zucker wie der Teufel das Weihwasser. Und was essen sie? Austauschstoffe, statt Glukose Fructose. Oder: In bestimmten Nahrungsmitteln ist der Zucker herausgenommen, dafür ist Fett enthalten. Die Folge: Die Patienten werden immer dicker, obwohl sie den Zucker vermeiden. Es ist zunächst gar nicht so wichtig, große Ziele vorzugeben. Jedoch sollte der Arzt dem Patienten Parameter an die Hand geben, an denen dieser selbst den Erfolg ablesen kann und dann sagt: »Aha, wenn ich das so mache, ändert sich etwas«.
Redaktion: Der Diabetes mellitus wird oft auch als »Alterszucker« diagnostiziert und verharmlost. Welche Auswirkungen kann das haben?"
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die Patienten mit dem sogenannten Alterszucker, also der im höheren Lebensalter auftretende Diabetes, haben eine etwas andere Facette als Patienten mit metabolischem Syndrom. Alte Menschen mit Diabetes sind nach Erfahrungen aus unseren »Altenheim Studien« gar nicht so übergewichtig. Sie haben häufig eine bessere, weil standardisierte Kost. Das Problem ist vielmehr, dass die Kombination des Diabetes mit dem Hochdruck, die häufig auch im Alter auftritt oder anderen Facetten der Makroangiopathie, sich insbesondere schädigend auf die Koronar-Durchblutung auswirkt und Angina Pectoris oder Schlaganfälle verursacht. Beeinflusst werden können diese schwerwiegenden Erkrankungen durch eine adäquate Therapie, insbesondere Therapie des Blutzuckers, der Lipide und des Hochdrucks.
Redaktion: Die gute Blutzuckereinstellung ist auch für die Therapie des metabolischen Syndroms mitentscheidend. Wie beurteilen Sie die »Blutzuckerselbstkontrolle« ?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die Blutzuckerselbstkontrolle hat eine große Bedeutung, weil die Patienten aktiv sind und selber sehen, wo sie stehen. Leider wird immer noch viel »Schindluder« mit der »Selbstmessung« getrieben. Es wird viel kontrolliert, ohne irgendeine Konsequenz daraus zu ziehen. Ich habe viele Patienten, die erst dann zu mir kommen, wenn sie über Wochen täglich vier, fünfmal Blutzuckerwerte von 220 oder 240 gemessen haben. Das macht natürlich keinen Sinn. Blutzuckerkontrollen sind nur dann sinnvoll, wenn sie Konsequenz nach sich ziehen.
Redaktion: Ist es sinnvoll, dass Patienten eine Blutzuckerselbstkontrolle durchführen, die noch gar keine Diabetiker sind, aber eine auffällige Glukosetoleranz haben?
Professor Dr. W. Scherbaum: "Die auffällige Glukosetoleranz besteht darin, dass die Blutzucker nach einer Mahlzeit abnorm ansteigen. Sie sehen das nicht so sehr beim Nüchtern-Blutzucker oder unter anderen Bedingungen. Insofern wägt sich der Betroffene im Sicheren, wenn er einfach den Blutzucker misst, gar noch den Nüchtern-Blutzucker. Viele, etwa ein Drittel der alten Diabetiker haben normale Nüchternblutzuckerwerte, aber eine diabetische Zwei-Stunden-Konstellation, d.h., im Serum oder im Vollblut einen Anstieg auf 180 und darüber oder im Plasma auf 200. Diese Diabetiker, die man nur mit dem oralen Glukosetoleranztest erkennt, sind besonders gefährdet für eine Makroangiopathie. Der Faktor ist eine 2,2 bis 2,4-fach höhere Risikorate für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Insofern wird der orale Glukosetoleranztest wieder häufiger durchgeführt werden. Wenn der Nüchternblutzucker und der Zuckerwert nach dem Essen beeinflusst ist, dann empfehlen wir Kontrolluntersuchungen für den Patienten, die er im Anschluss an bestimmte Mahlzeiten durchführt. Die Blutzuckerselbstkontrolle hat nicht nur Schulungscharakter, sondern ist als Hilfsmittel für die Therapie, die der Hausarzt dem Patienten empfiehlt, sehr wichtig.
Redaktion: "Herr Prof. Scherbaum, wir danken für das Gespräch."
Quelle: Interview mit Prof. Dr. W. Scherbaum im CF Journal" S.6-8 Ausgabe Dezember 1999 |