Die diabetischen Nervenerkrankungen
(22.02.2000) Die diabetischen Nervenerkrankungen, auch diabetische Neuropathien genannt, können neben den Veränderungen an den Blutgefäßen, der Netzhaut des Auges und der Nieren als dritter wichtiger Folgeschaden im Rahmen Diabetes mellitus entstehen. Diese Nervenerkrankungen entwickeln sich im Durchschnitt bei mehr als jedem dritten Diabetiker und verursachen vielfältige, zum Teil sehr unangenehme und schwerwiegende Beschwerden.
Ihre Entstehung wird durch eine jahrelang bestehende unzureichende Diabeteseinstellung entscheidend begünstigt. Die Nervenschädigung beginnt jedoch nicht erst dann, wenn der Patient die ersten Beschwerden verspürt, sondern sozusagen unbemerkt bereits in einer frühen Phase des Diabetes, in der sie aber durch besondere Nervenuntersuchungen durch den Arzt erfaßt werden kann. Der langfristig guten Diabeteseinstellung kommt eine herausragende Bedeutung zu, da sie nicht nur als erste Maßnahme bei der Behandlung der diabetischen Nervenstörungen gilt, sondern auch im Sinne der Vorbeugung aufzufassen ist.
Was versteht man eigentlich unter den diabetischen Nervenerkrankungen?
Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Vielfalt von unterschiedlichen Störungen, die im Prinzip alle Organsysteme des menschlichen Körpers erfassen können. Allgemein lassen sich zwei Hauptformen unterscheiden.
Erste Hauptform der diabetischen Nervenerkrankungen
- Erkrankungen des willkürlichen Nervensystems (periphere Neuropathie)
Hierbei handelt es sich um eine Schädigung der Nerven bevorzugt im Bereich der Füße und Beine, aber auch manchmal der Hände und Arme. Die Beschwerden äußern sich als brennende, reißende, stechende, aber auch bohrende, dumpfe, in der Tiefe empfundene Schmerzen, die typischerweise in Ruhe auftreten. Nachts erweisen sie sich häufig als besonders stark und im Gegensatz zu Durchblutungsstörungen kommt es beim Gehen teilweise zur Besserung. Weiterhin treten Mißempfindungen, Kribbeln wie "Ameisenlaufen", Wadenkrämpfe und manchmal Muskelschwäche und Gangunsicherheit auf. Von besonderer Bedeutung ist, dass es infolge abgeschwächter oder fehlender Gefühlsempfindung für Druck, Berührung, Schmerz und Temperatur im Bereich der Füße zu Druckstellen mit Ausbildung eines Geschwürs (Ulkus), starker Hornhautbildung und zu unbemerkten Verletzungen oder Verbrennungen kommen kann. Verstärkt trockene Haut und herabgesetzte oder fehlende Schweißbildung führen zu kleinen Rissen, die als Eintrittspforten für Haut- und sogar Knocheninfektionen anzusehen sind. Diabetische Fußgeschwüre können insbesondere bei zu später oder unsachgemäßer Behandlung soweit fortschreiten, dass eine Amputation notwendig wird.
Die oben genannten Beschwerden treten in der Regel symmetrisch, d.h. beidseitig und bevorzugt in den am weitesten vom Körperstamm entfernten Nervenabschnitten auf (Zehen, Füße, Finger). Daher wird diese Form als distale symmetrische Neuropathie bezeichnet. Sie ist mit über 90% unter den diabetischen Nervenerkrankungen am häufigsten anzutreffen. Es können aber auch mehrere Formen gleichzeitig auftreten. Seltener kommt es zu Ausfällen einzelner Nerven, die zu Schmerzen und Muskel-schwäche bis hin zur Lähmung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen im Bein-, Schulter-, Bauch-, Rücken-, und Brust-bereich führen können. Auch Hirnnerven können betroffen sein, wie insbesondere die die Augenmuskeln versorgenden Nerven, deren Schädigung Doppel bilder sowie Fehlstellungen der Lider und des Augapfels zur Folge haben kann.
Zweite Hauptform der diabetischen Nervenerkrankungen
- Erkrankungen des unwillkürlichen (autonomen) Nervensystems
(autonome Neuropathie)
Sie kann nahezu jedes Organsystem befallen und zeichnet sich durch ein buntes Bild von Störungen aus. Glücklicherweise treten ausgeprägte Beschwerden bei diesen Erkrankungen relativ selten und in der Regel erst nach langer Diabetesdauer auf. Eine Übersicht der wichtigsten Beschwerden an verschiedenen Organen zeigt die Tabelle. Viele der genannten Symptome können auch bei anderen Erkrankungen der betroffenen Organe auftreten, welche der Arzt ausschließen muß. Die Veränderungen am autonomen Nervensystem entwickeln sich langsam und schleichend. Durch den Einsatz neuer Untersuchungsmethoden ist es heute jedoch möglich, Funktionsstörungen noch vor der Ausbildung von Beschwerden zu erfassen. Dies ist vor allem für die autonomen Nervenstörungen am Herz-Kreislaufsystem wichtig, da Diabetiker mit solchen nachgewiesenen Veränderungen beispielsweise ein erhöhtes Risiko tragen, während der Narkose stärkere Blutdruckabfälle zu erleiden und einen stummen (beschwerdefreien) Herzinfarkt durchzumachen. Leider ist auch die Lebenserwartung der Patienten mit erheblichen Beschwerden im Rahmen der autonomen Nervenerkrankung etwa um das fünffache herabgesetzt. Umso wichtiger ist die Früherkennung dieser Störungen, um rechtzeitig das weitere Fortschreiten zu verhindern.
Untersuchungsmethoden
Neben der neurologischen Untersuchung und Erfassung der einzelnen Beschwerden hat der Arzt die Möglichkeit, die verschiedenen Veränderungen am Nervensystem mit Hilfe von zuverlässigen Methoden nachzuweisen. Die willkürlichen, schnell leitenden dick bemarkten Nerven werden durch Messung der Vibrationsempfindung, z.B. mit einer Stimmgabel und durch Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (= elektrische Leitfähigkeit der Nervenfasern) untersucht. Mindestens einmal im Jahr sollte der Arzt neben der Prüfung der Muskelreflexe auch den Stimmgabeltest durchführen. Als Hinweis für eine periphere Neuropathie ist das Vibrationsempfinden herabgesetzt und die Nervenleitgeschwindigkeit verlangsamt. Die Funktion der kleinen, markarmen und marklosen Nerven wird durch Messung der Schwellen für die Kälte- und Wärmeempfindung, die bei der diabetischen Nervenerkrankung im Bereich der Beine ebenfalls erhöht sind, geprüft. Bei der Untersuchung der autonomen Funktion am Herzen wird ein EKG durchgeführt und am einfachsten mit Hilfe eines Computers ausgewertet. Von Bedeutung sind dabei Änderungen der Herzschlagfolge und des Blutdrucks unter unterschiedlichen Atem- und Lagebedingungen. Eine verminderte Schwankungsbreite der Herzschlagfolge oder ein starker Blutdruckabfall nach dem Aufstehen werden als Hinweise auf eine autonome Nervenerkrankung am Herz-Kreislaufsystem gewertet.
Behandlungsmöglichkeiten
Die wichtigste Maßnahme gegen die diabetischen Nervenerkrankungen besteht darin, ihnen vorzubeugen. Je früher der Patient nach der Feststellung seines Diabetes langfristig eine möglichst optimale Diabeteseinstellung erreicht, umso größer ist seine Chance, dass er diesen Folgeschäden im Laufe seines Lebens nicht begegnen wird. Es gibt aber neben der langfristig unzureichenden Diabeteseinstellung noch weitere Faktoren, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der diabetischen Nervenerkrankungen spielen. So tragen ein übermäßiger Alkoholkonsum und Rauchen zu einer Nervenschädigung bei, so dass diese Risikofaktoren aus Gründen der Vorbeugung unbedingt gemieden werden sollten.
Insbesondere bei starken Schmerzen oder unangenehmen Kribbeln ist neben der guten Diabeteseinstellung nicht selten auch eine zusätzliche medikamentöse Behandlung erforderlich, um die Lebensqualität des Patienten zu erhalten. Hier stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung, die in der Regel gut helfen. Auch die vielfältigen Beschwerden seitens der autonomen Nervenerkrankungen können medikamentös behandelt werden. Bei Patienten mit Muskelschwäche oder Lähmungen hilft eine regelmäßige krankengymnastische Betreuung. Allgemein ist auf eine ausreichende körperliche Bewegung zu achten. Hingegen können Druckgeschwüre nur abheilen, wenn sie konsequent durch Bettruhe und anschließend durch Vorfußentlastungsschuhe (Fersensandalen) entlastet und sachgemäß lokal durch regelmäßige Abtragung von Hornhaut- und Geschwürsgewebe sowie antibiotisch behandelt werden.
Nach Abheilung erfolgt in Zusammenarbeit mit einem qualifizierten orthopädischen Schuhmacher die Anpassung von orthopädischem Schuhwerk, um damit einer erneuten Ausbildung von Geschwüren vorzubeugen. Inzwischen gibt es an verschiedenen Kliniken"Fußambulanzen", die speziell Fußprobleme bei Diabetikern behandeln. Besonders wichtig für Diabetiker mit einer Nervenerkrankung ist die richtige Fußpflege. Die Anleitung hierzu ist fester Bestandteil jeder Diabetikerschulung. Die Füße sollten jeden Abend kontrolliert werden, wobei insbesondere auf kleine Verletzungen, Wunden, Hautverfärbungen, Hornhaut, rissige Haut, Schwielen, Blasen, Fußpilz und eingewachsene Nägel zu achten ist. Als Grundregel bei der Fußpflege ist die Vermeidung von Verletzungen anzusehen, so dass die Benutzung von scharfen Gegenständen hierbei ungeeignet ist.
Zusammenfassend ist zu betonen, dass Vorbeugung durch langfristig gute Diabeteseinstellung als die beste Behandlung der diabetischen Nervenerkrankungen gilt. Weitere wichtige Maßnahmen umfassen die Schulung in richtiger Fußpflege und den Verzicht auf übermäßigen Alkoholgenuß und Rauchen. Nur auf diese Weise gelingt es, diese ernsthaften, für den Patienten oft sehr unangenehmen Folgeschäden des Diabetes am Nervensystem zu verhindern.
Priv. Doz. Dr Dan Ziegler in Diabetes Heute, Schriftenreihe der Deutschen Diabetes Union e.V. 1998 |