Retinopathie auch bei niedrigeren Blutzuckerspiegeln möglich
(26.03.2008) Die diabetische Retinopathie ist eine typische Folgeerkrankung des Diabetes mellitus. Bisher gingen Mediziner davon aus, dass das Risiko für die Augenerkrankung erst bei Nüchtern-Blutzuckerwerten oberhalb von 126 mg/dl (7,0 mmol/l) ansteigt. Dies ist auch die „Blutzuckerschwelle“ für die Diagnose einer Diabeteserkrankung. Eine neue Auswertung von drei Studien mit mehr als 11.400 Personen zeigt jedoch, dass die Retinopathie durchaus auch bei niedrigeren Blutzuckerspiegeln auftreten kann.
Bei der Retinopathie sind die kleinen Gefäße der Netzhaut verändert
Bei der Retinopathie sind die kleinen Gefäße in der Netzhaut der Augen (Retina) krankhaft verändert. Mit fortschreitender Schädigung kommt es zu Blutungen, Aussackungen der Gefäßwände, Gefäßverschlüssen und Gefäßwucherungen. Dies kann zur Beeinträchtigung des Sehens und in einigen Fällen sogar zum Erblinden führen. Tatsächlich ist die diabetische Retinopathie die häufigste Erblindungsursache in Mitteleuropa.
Wissenschaftler um Tien Y. Wong von der Universität Melbourne haben Ergebnisse einer Metaanalyse vorgestellt, die zeigen, dass längst nicht alle Retinopathie-Patienten überhöhte Blutzuckerspiegel aufweisen: Bei vielen Betroffenen liegt der Nüchtern-Plasmaglukosespiegel unterhalb von 126 mg/dl (7,0 mmol/l). Die Beobachtung von Wong und seinen Kollegen basiert auf der Auswertung von drei populationsbasierten Kohortenstudien:
- Blue Mountains Eye Study mit 3.162 Teilnehmern,
- Australian Diabetes, Obesity, and Lifestyle Study mit 2.182 Teilnehmern und
- Multi-Ethnic Study of Atherosclerosis mit 6.079 Teilnehmern.
In diesen Studien hatte man alle Teilnehmer auf das Vorliegen einer Retinopathie untersucht. Dabei wurden mehrere Netzhautphotographien von jedem Auge angefertigt und mit Hilfe der modifizierten Airlie-House-Klassifikation ausgewertet.
Insgesamt waren 11,5 % bzw. 9,6 % und 15,8 % der Studienteilnehmer von einer Retinopathie betroffen. Bei der weiteren Analyse stellten die Wissenschaftler fest, dass es für das Auftreten der Augenerkrankung offenbar keine „Blutzuckerschwelle“ gab, unterhalb derer man das Retinopathie-Risiko nahezu ausschließen konnte. In der Blue Mountains Eye Study wiesen zum Beispiel rund 10 Prozent der Teilnehmer mit Blutzuckerwerten unter 100 mg/dl (5,6 mmol/l) eine Erkrankung der Netzhautgefäße auf – ein Blutzuckerbereich, der eigentlich als „normal“ gilt. Ähnliche Ergebnisse zeigten auch die beiden anderen Studien. Allerdings stieg das Retinopathie-Risiko mit zunehmender Höhe der Blutzuckerwerte an: In den drei Studien waren zwischen 17,8 und 34,7 Prozent der Teilnehmer mit BZ-Werten oberhalb von 126 mg/dl von einer Retinopathie betroffen.
Das FAZIT der Wissenschaftler: Das Risiko für eine Retinopathie steigt mit der Höhe der Blutzuckerwerte an. Im Gegensatz zu früheren Annahmen gibt es jedoch keine „Blutzuckerschwelle“, unterhalb derer man das Auftreten der Netzhauterkrankung ausschließen kann. Tatsächlich ist die Retinopathie auch bei Blutzuckerwerten unter 126 mg/dl (7,0 mmol/l) kein seltenes Ereignis. Für die Praxis sollten daher neben dem Blutzucker auch weitere Gefäßrisikofaktoren berücksichtigt werden, um Retinopathie-gefährdete Patienten so früh wie möglich zu erkennen.
Dr. med. Anja Lütke, freie Mitarbeiterin von Diabetes-Deutschland.de, Deutsches Diabetes-Zentrum an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung
Quelle: Wong TY, Liew G, Tapp RJ et al. Relation between fasting glucose and retinopathy for diagnosis of diabetes: three population-based cross-sectional studies.Lancet 2008; 371: 736-43 |