Deutsche Gesundheitsökonomen lehnen Methodenvorschlag des IQWiG zur Bewertung medizinischer Verfahren ab
(28.05.2008) Am 24. Januar 2008 ist das IQWiG seinen gesetzlichen Verpflichtungen aus § 35b des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) nachgekommen, indem es einen ersten Entwurf einer „Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Nach Auffassung der unterzeichnenden Mitglieder des Ausschusses für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik entsprechen die Inhalte des Papiers in wesentlichen Punkten weder den Erfordernissen in Deutschland noch den fachlichen Standards der Gesundheitsökonomie.
1. Die Wahl der Bewertungsperspektive entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen 2. Die Behandlung der Methoden erfolgt nicht systematisch und weist fachliche Unzulänglichkeiten auf 3. Der verwendete Nutzenbegriff bleibt unklar, der internationale Wissensstand wird nicht adäquat berücksichtigt 4. Das Konzept „Effizienzgrenze“ ist unrealistisch, die vorgeschlagene Anwendung wissenschaftlich nicht haltbar 5. Eine rein indikationenbezogene Entscheidung über die Wirtschaftlichkeit ist ökonomisch nicht möglich Fazit: Das Methodenpapier ist in der jetzigen Form untauglich
1. Die Wahl der Bewertungsperspektive entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen
Das IQWiG will die Kosten einzig aus der Perspektive der gesetzlichen Krankenversicherung, bestenfalls aus der Perspektive der Versicherten bewerten. Dies übersieht, dass eine medizinische Behandlung sowohl Kosten als auch Einsparungen bei anderen Sozialversicherungen (z.B. der Rentenversicherung im Rehabilitationsfall und der Pflegeversicherung im Pflegefall) sowie erhöhte Steuereinnahmen (etwa durch Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit) nach sich ziehen kann. Dies muss bei der Wahl der Perspektive berücksichtigt werden, wenn der Anforderung von SGB V §35b (1) Satz 4 nach der Prüfung der „Angemessenheit und Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft“ adäquat Rechnung getragen werden soll.
2. Die Behandlung der Methoden erfolgt nicht systematisch und weist fachliche Unzulänglichkeiten auf
Das Methodenpapier behandelt eine Reihe von grundlegenden Kategorien der „Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten“ nicht oder nur unzureichend. So fehlen begründete Ausführungen zu den zulässigen Arten der ökonomischen Evaluation (z.B. zu den Bedingungen des Einsatzes einer Kosten-Nutzwert-Analyse), zu den zulässigen Studienformen (insbesondere den wichtigen Modellierungsansätzen) ebenso wie Vorgaben zu den akzeptablen Formen der genauen Messung von Kosten und Effekten, aber auch Angaben zur Integration von Unsicherheit in die Analyse (sowohl bezüglich stochastischer als auch deterministischer Komponenten). Damit werden wesentliche Fragen der ökonomischen Evaluation nicht in der international üblichen Weise bearbeitet. Ferner entsprechen Analyseverfahren mit unterschiedlichen Untersuchungszeiträumen auf der Kosten- und Effektseite, wie sie vorgeschlagen werden, keinem bekannten ökonomischen Konzept.
3. Der verwendete Nutzenbegriff bleibt unklar, der internationale Wissensstand wird nicht adäquat berücksichtigt
Der für die Bewertung zentrale Begriff des Nutzens wird an keiner Stelle präzise definiert. Insbesondere bleibt der Kern des Methodenvorschlags unklar, wie aus der – nach dem IQWiG- Konzept vorausgehenden – Nutzenbewertung, die typischer Weise mehrdimensional erfolgt, die eine skalare Nutzengröße gebildet werden soll, die dann in der Kosten- Nutzenbewertung verwendet wird. Die Auswahl und Gewichtung der verschiedenen Nutzenkomponenten ist eine hochkomplexe Aufgabe, deren Ergebnis das errechnete Verhältnis von Kosten und Nutzen unmittelbar beeinflusst. Daher ist hier ein klares und transparentes Vorgehen unabdingbar.
International hat sich das Konzept der qualitätskorrigierten Lebensjahre (QALYs) für die kardinale Messung der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Nutzendimensionen Lebensqualität und Lebensdauer (§35b (1) Satz 4) etabliert. Obgleich das IQWiG auch die Forderung nach einem kardinalen Nutzenmaß stellt, wird das QALY-Konzept im Haupttext ohne explizite Benennung nur am Rande behandelt. Statt dieses wissenschaftlich fundierte, validierte und international etablierte Konzept detailliert zu prüfen und ggf. für Deutschland weiter zu entwickeln, wird auf S.29 die Entwicklung eines bislang unbekannten und nicht validierten Scoring- Systems zur Abwägung von Nutzen und Schaden für jeden einzelnen patientenrelevanten Endpunkt vorgeschlagen.
4. Das Konzept „Effizienzgrenze“ ist unrealistisch, die vorgeschlagene Anwendung wissenschaftlich nicht haltbar
Das IQWiG will die Bewertung mit Hilfe zweier graphischer Konzepte vornehmen, nämlich einer „Effizienzgrenze“, auf der Kosten und Nutzen der besten bereits bekannten Behandlungsverfahren aufgezeichnet sind, und der daraus abgeleiteten zwei „Entscheidungszonen“ (höherer Nutzen/geringere Kosten sowie höherer Nutzen/höhere Kosten). Solche Darstellungen dienen dazu, die wissenschaftliche Evidenz über die Wirtschaftlichkeit für Entscheidungsträger aufzubereiten. In dem vorgelegten theoretischen Konzept werden bis zu sieben Arzneimittel dargestellt, die in einem Indikationsgebiet verglichen werden sollen. Ökonomisch müssten alle Arzneimittel mit exakt dem gleichen Verfahren bewertet werden, um methodisch bedingte Ergebnisunterschiede auszuschließen; nach dem heutigem Stand der Literatur – und den fehlenden genauen Vorgaben – erscheint dies völlig unrealistisch. Für den Entscheidungsvorschlag, auf der Basis der Wirtschaftlichkeit der heute auf dem jeweiligen Teilmarkt vorfindbaren Präparate über die künftigen Präparate zu entscheiden, wird ferner keinerlei wissenschaftliche oder normative Begründung vorgebracht.
5. Eine rein indikationenbezogene Entscheidung über die Wirtschaftlichkeit ist ökonomisch nicht möglich
Das IQWiG will ökonomische Bewertungen nur innerhalb des jeweiligen Indikationsgebiets vornehmen. Ökonomisch gesehen übersieht dies, dass eine Ausgabenentscheidung in einem Indikationsgebiet alleine nicht möglich ist, sondern immer Auswirkungen auf den verfügbaren Rest – oder den Beitragssatz – hat. Entscheidungsträger, die keine Information zum Vergleich über Indikationsgebiete hinweg zur Verfügung haben, laufen Gefahr, dass ihre Entscheidungen inkonsistent sind und zu Ungerechtigkeiten gegenüber betroffenen Patientengruppen führen. Wird aber beispielsweise das Nutzenmaß (zumindest als Referenz) in QALYs angegeben, so sind für den Entscheidungsträger über die Größe „Kosten pro QALY“ Vergleiche über Arzneimittel und Indikationsgebiete hinweg möglich. Dadurch würde die Transparenz der Entscheidungsgrundlagen für den Gemeinsamen Bundesausschuss und den Spitzenverband Bund der Krankenkassen erheblich erhöht.
Fazit: Das Methodenpapier ist in der jetzigen Form untauglich
Das IQWiG schlägt mit seinem ersten Entwurf zur Kosten-Nutzenbewertung konzeptionell und methodisch einen unerprobten und wissenschaftlich nicht etablierten deutschen Sonderweg ein, ohne dabei Klarheit über interpretierbare Kosten-Nutzen-Verhältnisse zu erreichen. Der Entwurf entspricht damit aus Sicht der Mehrzahl der deutschen Gesundheitsökonomen nicht den in „Fachkreisen anerkannten internationalen Standards… der Gesundheitsökonomie“ (§35b (1) Satz 5).
Zur gesundheitsökonomischen Evaluation in Deutschland liegen – national und international veröffentlicht – aktuelle Methodenempfehlungen vor, die eine größere Professorengruppe aus der Gesundheitsökonomie und verwandten Fächern zusammen mit Praktikern aus Industrie und Selbstverwaltung entwickelt hat (dritte Version des „Hannoveraner Konsenses“, 2007/8). Das IQWiG hat dieses Papier zwar zitiert, seine Inhalte aber nicht adäquat einbezogen, was die fachlichen Methodengrundlagen deutlich hätte verbessern können.
Das Methodenpapier sollte in den angesprochenen Punkten verbessert werden, um Schaden von der Versichertengemeinschaft der GKV abzuwenden und die dringend benötigte, rationale Abwägung von Kosten und Nutzen bei Entscheidungen über neue medizinische Technologien zu fördern.
Die Mitglieder des Ausschusses für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik:
Prof. Dr. Friedrich Breyer, Universität Konstanz (Vorsitzender) PD Dr. Konstantin Beck, Luzern Prof. Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen Prof. Dr. Christian Ernst, Universität Hohenheim Prof. Dr. Stefan Felder, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke, Technische Universität Berlin Dr. Klaus Jacobs, Wissenschaftliches Institut der AOK, Bonn Prof. Dr. Alexander Karmann, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Mathias Kifmann, Universität Augsburg Prof. Dr. Gerhard Kleinhenz, Universität Passau Prof. Dr. Hartmut Kliemt, Frankfurt School of Finance and Management Prof. Dr. Eckhard Knappe, Universität Trier Prof. Dr. Walter Krämer, Universität Dortmund Prof. Dr. Reiner Leidl, Ludwig-Maximilian-Universität München Prof. Dr. Robert Leu, Universität Bern Prof. Dr. Robert Nuscheler, University of Waterloo Prof. Dr. Peter Oberender, Universität Bayreuth Prof. Dr. Anita Pfaff, Universität Augsburg Prof. Dr. Aloys Prinz, Westfälische Wilhelm-Universität Münster Prof. Dr. Walter Ried, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Dr. Andreas Ryll, Berlin Dr. Markus Schneider, BASYS, Augsburg Prof. Dr. J.-Matthias Graf v.d. Schulenburg, Leibniz-Universität Hannover Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth Prof. Dr. Gert G. Wagner, Technische Universität Berlin Prof. Dr. Achim Wambach, Universität zu Köln Prof. Dr. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen Prof. Dr. Eberhard Wille, Universität Mannheim
Quelle: Verein für Socialpolitik, www.socialpolitik.de, Pressemeldung vom 04.03.2008 |