Frühdiagnose und Frühtherapie bei Typ 2 Diabetes
Etwa sechs bis sieben Millionen Diabetiker gibt in Deutschland, von denen die Typ 2 Diabetiker 95 % ausmachen. Der "klassische Diabetiker", dem man in Klinik und Praxis begegnet, ist der übergewichtige Typ 2 Patient. Nicht allein diese Zahlen sind bedeutungsvoll und erschreckend, sondern vor allem die Tatsache, dass eine Vorphase als sogenanntes metabolisches Syndrom existiert, bei dem eine Insulinresistenz, eine Stammfettsucht, eine Dyslipoproteinämie, eine Hypertonie sowie Gerinnungsstörungen imponieren.
Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert Mit fortschreitender Insulinresistenz und mit ersten frühen Störungen der körpereigenen Insulinproduktion entwickelt sich schließlich über das Stadium der gestörten Glukosetoleranz hinweg der manifeste Typ 2 Diabetes.
Nur etwa ein Drittel der Typ 2 Diabetiker klagt nach der Manifestation über klassische Diabetes-Symptome (Durst, Polyurie, Gewichtsabnahme, Mattigkeit), so dass der Labordiagnose große Bedeutung zukommt, indem zum Beispiel ein aufmerksamer Arzt bei erheblicher familiärer Belastung des Patienten und bei starkem Übergewicht an die Möglichkeit eines Typ 2 Diabetes denkt und entsprechende Blutglukosetests durchführt. Darüber hinaus ergibt sich das erschreckende Bild, das zwischen dem Auftreten des Typ 2 Diabetes und der Diagnose in der Regel sechs bis sieben Jahre vergehen. Dies wiederum bedeutet, dass der Typ 2 Diabetes lange Zeit unerkannt und vor allem eben auch unbehandelt bleibt, wodurch sich diabetische Folgeschäden vorzeitig einstellen können.
Wir halten außerdem fest: Schon in der Phase des metabolischen Syndroms haben 50 % der Patienten eine Makroangiopathie und z. T. eine Mikroangiopathie aufzuweisen. Mit der Störung der Glukosetoleranz, also dem ersten Auftreten einer Dysregulation des Kohlenhydratstoffwechsels, verstärken sich diese vaskulären Schäden und womöglich machen sich erste neuropathische Prozesse bemerkbar. Letzteres ist mit Sicherheit der Fall, wenn dann der manifeste Diabetes entsteht und über längere Zeit unbehandelt bleibt.
Die Konsequenz aus diesen Überlegungen kann nur sein, dass die einzelnen Facetten des metabolischen Syndroms - in erster Linie durch Ernährungstherapie und körperliche Bewegung - behandelt werden und damit eine Fortentwicklung des diabetischen Prozesses gestoppt wird. Ähnliches gilt für das Stadium der gestörten Glukosetoleranz, bei der die Änderungen des Lebensstils, wie verschiedene amerikanische und finnische Studien gezeigt haben, einen günstigen Einfluss auf die Prävention des manifesten Diabetes haben.
Und natürlich gilt es dann, wenn der Diabetes manifest ist, dass nicht nur - wie zur Zeit in Deutschland üblich - etwa 15 bis 20 % der Typ 2 Diabetiker eine entsprechende Schulung erfahren, sondern dass es eine wichtige Aufgabe künftiger gesundheitspolitischer Entscheidungen sein muss, hier Verbesserungen zu erreichen. Eine Voraussetzung dazu wäre die Förderung der Schulung durch die niedergelassenen Ärzte und die Gestaltung sinnvoller Schulungsprogramme, die den Problemen des Typ 2 Diabetes gerecht werden.
In großer Sorge muss man als in Praxis und Klinik tätiger Diabetologe Bestrebungen beobachten, bei denen die Problematik der Hochrisikoerkrankung Typ 2 Diabetes bagatellisiert und verniedlicht wird. So ist es geradezu unglaublich, wenn in diesem Zusammenhang HbA1c-Werte als Grenzwerte diskutiert werden, die mit 8 oder 8,5 % weit über dem Bereich liegen, in dem bereits vaskuläre und neuropathische Schäden zu beobachten sind. Die UKPDS-Studie hat dies eindeutig belegt und gerade in einer neuesten Analyse auch im Hinblick auf die periphere Verschlußkrankheit dargelegt.
Die "drei Zugpferde der Troika" der Diabetesbehandlung haben zu sein:
1. Die Schulung des Patienten 2. Die Therapie der Stoffwechselstörung, im engeren Sinne mit Diät, Muskelarbeit, Tabletten und Insulin. 3. Die Sicherstellung des Therapieerfolges durch Selbstkontrolle des Patienten.
Wiederum mit größter Sorge sind die Bestrebungen von Kassenseite zu beobachten, die Selbstkontrolle der Patienten - gemeint sind in erster Linie die Blutzuckerselbstkontrollen insulinbehandelter Diabetiker - drastisch einzuschränken. Dies führt nicht nur zu einer schlechteren Einstellung des Diabetes der Betroffenen, sondern natürlich auch zu einer kürzeren Lebenserwartung infolge frühzeitigen Auftretens von Folgeschäden.
Ernährungs- und Bewegungstherapie sind die wichtigen Grundlagen der Behandlung des übergewichtigen Typ 2 Diabetikers. Die große britische UKPDS-Studie (siehe oben) hat überdies gelehrt, dass Typ 2 Diabetiker, wenn sie nicht ausreichend mit diätetischen Maßnahmen behandelt werden können, dann zuerst mit oralen Antidiabetika und später erst mit Insulin behandelt werden sollen. Der Grund hierfür liegt in der Gewichtszunahme und im Auftreten von Hypoglykämien unter der Insulintherapie, die allerdings im Laufe des Typ 2 Diabetes - wenn die körpereigene Insulinsekretion erloschen ist - in späteren Jahren fast stets erforderlich wird.
Auch kann man bei der gefürchteten postprandialen Hyperglykämie (erhöhter Blutzucker nach dem Essen) bei später Diagnose des Typ 2 Diabetes (siehe oben) schon in vielen Fällen damit rechnen müssen, dass der endogene Insulinmangel weit fortgeschritten ist. Deswegen kommt bei solchen Patienten dann sogar eine frühzeitige Insulintherapie (am besten mit kurzwirkenden Injektionen vor den Mahlzeiten) in Betracht.
Wenn dieses Editorial vor allem Wert auf die frühzeitige Therapie der metabolischen Störungen in Vorphasen des manifesten Diabetes und unmittelbar nach Beginn der Typ 2 Erkrankung Wert legt, dann sollte doch nicht vergessen werden, dass auch nach der Manifestation der Krankheit in späteren Jahren die eben geschilderte exakte medikamentöse Behandlung des Typ 2 Diabetes erforderlich ist. Diese muss aber auf alle Fälle ergänzt werden durch die in ihrer Bedeutung in gar keinem Fall zu unterschätzende Therapie einer Hypertonie (bis zu 80 % der Typ 2 Diabetiker haben zu hohe Blutdruckwerte) und der Dyslipoproteinämie, die sich bei Diabetikern mit der Lipidtrias "hohe Triglyzeride, niedriges HDL-Cholesterin, erhöhte LDL-Partikel, die klein, dicht, oxidiert, glykiert und besonders gefäßaggressiv sind" äußert.
Für die Hochdrucktherapie kommen in erster Linie ACE-Hemmer in Betracht, die im übrigen auch der Insulinresistenz entgegenwirken, während bei der Dyslipoproteinämie (gestörter Fettstoffwechsel) Statine und ggf. Fibrate (aber nicht kombiniert!) von Bedeutung sein können. Bei der so wichtigen und weit verbreiteten Neuropathie (Nervenerkrankung), die im Laufe des diabetischen Lebens jeden zweiten Patienten betrifft, ist die gute Diabeteseinstellung und die Therapie mit Alpha-Liponsäure von Wichtigkeit. Gerade letztere Behandlung wurde durch die überzeugenden Studien von Ziegler, Düsseldorf, belegt und durch die neuere, sogenannte Sydney-Studie bestätigt.
Stets aber sollte bedacht werden, dass allen medikamentösen Behandlungsversuchen - sei es nun gegen den Diabetes selbst, gegen die Neuropathie, gegen den Hochdruck und gegen die Dyslipoproteinämie - die Bemühungen um eine annähernd normoglykämische Diabeteseinstellung vorauszugehen hat. Deshalb ist - und das sei noch einmal betont - die Bagatellisierung des Typ 2 Diabetes mit nach oben verzerrten Grenzwerten zu ungunsten der Patienten in jeder Weise und entschieden abzulehnen.
Im Gegenteil: Im Kampfe gegen die diabetischen Folgeschäden und für eine bessere Lebenserwartung und bessere Lebensqualität - auch gerade bei unseren älteren Patienten, die ja nach der Manifestation noch ca. ein bis zwei Jahrzehnte und länger zu leben haben - ist die rechtzeitige und richtige Behandlung des Diabetes und seiner Komplikationen sowie die Bekämpfung von Dyslipoproteinämie und Hypertonie und ggf. auch von Gerinnungsstörungen die Behandlung der Zukunft und die Behandlung der Wahl.
Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert, Institut für Diabetes-Forschung am Krankenhaus München-Schwabing; Ehrenvorsitzender der DDU.
Aktualisiert: Januar 2005 |