Die Rosiglitazon-Debatte: Der aktuelle Stand
(14.06.2007) Bevor ein Arzneimittel für die Therapie einer Erkrankung eingesetzt wird, muss es eine Vielzahl von Studien zur Wirksamkeit und Verträglichkeit „überstehen“. Anhand der Ergebnisse solcher Untersuchungen lassen sich die Eigenschaften eines Medikaments beurteilen. Diese Bewertungen können jedoch immer nur eine Annäherung sein und müssen kontinuierlich durch weitere Studien ergänzt werden. Ein 100%iges „trifft zu“ oder „trifft nicht zu“ gibt es in der Regel nicht, denn jede noch so gut durchdachte Studie beinhaltet Störfaktoren, die Ergebnisse in die eine oder andere Richtung verzerren können.
Die Konsequenz: Es kommt zu widersprüchlichen Aussagen, die eine Beurteilung von Nutzen und Risiko eines Medikaments erschweren. Das jüngste Beispiel ist die Diskussion um das Diabetes-Medikament Rosiglitazon, für das seit ein paar Wochen erörtert wird, ob es möglicherweise das Risiko für Herzinfarkte und tödliche Herzerkrankungen erhöht.
Auslöser des Verdachts waren die Ergebnisse einer Meta-Analyse, die Steven Nissen und Kathy Wolski von der Cleveland Clinic in Ohio/USA in der renommierten Fachzeitschrift New England Journal of Medicine vor wenigen Wochen veröffentlicht hatten. Dort fassten die Autoren die Ergebnisse von 42 Rosiglitazon-Studien mit insgesamt mehr als 28.000 Patienten zusammen. Hierbei wurde nicht nur die publizierte Literatur, sondern auch die Website der Food and Drug Administration (FDA) und das klinische Studienregister der Herstellerfirma GlaxoSmithKline (GSK) ausgewertet. Bei der Gesamtbeurteilung aller Daten kamen die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass Rosiglitazon im Vergleich zu Plazebo (= Scheinmedikament) oder im Vergleich zu anderen Diabetesmedikamenten das Herzinfarktrisiko statistisch signifikant erhöht. Auch bei den herzkreislaufbedingten Todesfällen wurde ein leichter, allerdings nicht-signifikanter Anstieg unter der Therapie mit Rosiglitazon errechnet.
Diese Ergebnisse stehen zum Teil im Widerspruch zu Erfahrungen aus anderen Untersuchungen. Entsprechend räumen die Autoren in ihrer Arbeit selber ein, dass ihre Analyse kein abschließendes Urteil über die Sicherheit von Rosiglitazon ermöglicht: Zum einen ist die Aussagekraft von Meta-Analysen (= Zusammenfassung der Ergebnisse mehrerer unterschiedlicher Einzelstudien) generell eingeschränkt, da die Studien nicht genau dieselben Methoden, Definitionen und Patienten benutzen. Zum anderen waren die hier analysierten Einzelstudien dazu angelegt, Stoffwechselveränderungen zu untersuchen. Aussagen zu eventuellen Nebenwirkungen im Herzkreislaufbereich lassen diese Studien aufgrund ihres Designs nur unter Vorbehalt zu.
Trotz der Einschränkungen bei der Interpretierbarkeit lassen die Ergebnisse der Meta-Analyse von Nissen und Wolski zwei Fragen im Raum stehen: Wurden in der Vergangenheit schwerpunktmäßig „unproblematische“ Studien veröffentlicht (in die Meta-Analyse gingen auch Daten aus bisher nicht publizierten Studien ein), das heißt liegt ein so genannter Publikationsbias vor, und muss für Rosiglitazon möglicherweise tatsächlich ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislaufereignisse angenommen werden? Ordnung in die momentane Verwirrung sollten die Ergebnisse einer extra aus diesem Anlass durchgeführten Zwischenauswertung der RECORD-Studie bringen. Dabei handelt es sich um eine randomisierte, prospektive klinische Endpunktstudie, die speziell dafür konzipiert ist, den Einfluss von Rosiglitazon auf das Herzkreislaufrisiko zu untersuchen. Eine andere Herzreislauf-Endpunktstudie (PROactive) hatte in der Vergangenheit gezeigt, dass Pioglitazon – ein Medikament aus der gleichen Substanzklasse – einen günstigen Einfluss auf das Herzkreislaufrisiko hat: Die Rate an Herzinfarkten, Schlaganfällen und herzkreislaufbedingten Todesfällen wurde unter einer Behandlung mit Pioglitazon im Vergleich zu Plazebo statistisch signifikant gesenkt.
Die RECORD-Studie mit Rosiglitazon vergleicht zwei Gruppen von Patienten mit Typ 2 Diabetes und unzureichender Blutzuckereinstellung. Insgesamt wurden mehr als 4.400 Teilnehmer in die Studie eingeschlossen. Während eine Gruppe mit der Kombination Rosiglitazon plus Metformin oder Rosiglitazon plus einem Sulfonylharnstoff (= Rosiglitazon-Gruppe) behandelt wird, erhält die andere Gruppe eine Kombinationstherapie mit Metformin plus einem Sulfonylharnstoff (= Kontrollgruppe). Als so genannter primärer Endpunkt werden die herzkreislaufbedingten Krankenhauseinweisungen und die herzkreislaufbedingten Todesfälle erfasst. Sekundäre Zielparameter sind unter anderem das Auftreten von Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und die Gesamtsterblichkeit. Die Endauswertung der Studie wird für 2009 erwartet. In der aktuellen Zwischenauswertung betrug die mittlere Beobachtungszeit 3,75 Jahre.
Die Analysen der Zwischenauswertung zeigen Folgendes: In der Rosiglitazon-Gruppe wurden bisher 217 Patienten mit einem Herzkreislaufereignis in ein Krankenhaus eingewiesen oder verstarben herzkreislaufbedingt (Kontrollgruppe: 202 Patienten; HR 1,08; p = 0,43). Einen akuten Herzinfarkt erlitten 43 Rosiglitazon-Patienten (Kontrollgruppe: 37 Patienten; HR 1,16; p = 0,50) und von einer Herzinsuffizienz waren 38 Typ 2 Diabetiker aus der Rosiglitazon-Gruppe betroffen (Kontrollgruppe: 17 Patienten; HR 2,24; p = 0,006). Insgesamt (mit und ohne Herzkreislauf-Ursache) verstarben 74 Patienten aus der Rosiglitazon-Gruppe und 80 Patienten aus der Kontrollgruppe (HR 0,93; p = 0,63). Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse mit einer Ausnahme keine statistisch signifikanten Unterschiede bei der Häufigkeit von Herz-Kreislaufereignissen. Lediglich die Fälle mit Herzinsuffizienz sind bei den Rosiglitazon-behandelten Patienten deutlich häufiger dokumentiert. Das erhöhte Risiko für eine Herzinsuffizienz unter Rosiglitazon ist aus der Vergangenheit bereits bekannt.
Derzeit wird diskutiert, welche Aussagekraft die Ergebnisse der Zwischenanalyse für die Praxis haben. Einschränkungen ergeben sich zum Beispiel aus der Tatsache, dass die Gesamtzahl der Herzkreislaufereignisse im Vergleich zu anderen beobachteten Patienten-Populationen bisher auffällig gering ist. Wegen der im Hinblick auf die gesamte geplante Studiendauer noch recht kurzen Laufzeit lässt sich außerdem nur schwer voraussagen, in welche Richtung sich die Zahlen weiterentwickeln werden: Gehen die angedeuteten Trends bei den Herzkreislaufereignissen mit der Folge Krankenhauseinweisung oder Tod stärker auseinander, gleichen sie sich weiter an oder kehren sie sich möglicherweise sogar um?
Letztendlich kann zu diesem Zeitpunkt nur folgende Aussage sicher getroffen werden: Eine endgültige Beurteilung des Herzkreislaufrisikos unter Rosiglitazon ist bisher nicht möglich. Bis weitere Daten und Ergebnisse vorliegen, ist daher eine besonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung zu empfehlen. Die Rosiglitazon-Debatte ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es eine „letzte Sicherheit“ in der Medizin nicht gibt. Die Herausforderung besteht darin, alle verfügbaren Daten offen zu legen und den aktuellen Wissensstand durch weitere Untersuchungen und Erfahrungen kontinuierlich zu ergänzen – idealerweise durch (leider extrem kosten- und zeitintensive) Outcome-Studien, in denen nicht „nur“ die Veränderung von Laborparametern, sondern das eigentliche Ergebnis für den Patienten – wie z. B. Krankheit, Tod oder Behinderung – erfasst wird. Dabei ist es wichtig, jederzeit offen für neue Erkenntnisse und Beobachtungen zu sein – auch und besonders, wenn dies Unsicherheiten mit sich bringt.
Dr. med. Anja Lütke, freie Mitarbeiterin der Deutschen Diabetes-Klinik des Deutschen Diabetes-Zentrums an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung Prof. Dr. med. W.A. Scherbaum, Deutsches Diabetes-Zentrum (DDZ) und Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Rheumatologie Universitätsklinikum Düsseldorf
Quellen: Home PD, Pocock SJ, Beck-Nielsen H et al. Rosiglitazone Evalutated for Cardiovascular Outcomes – An Interim Analysis. N Engl J Med 2007; 357; DOI: 10.1056/NEJMoa073394, published online on June 4 Nissen SE, Wolski K. Effect of rosiglitazone onthe risk of myocardial infarction and death from cardiovascular causes. N Engl J Med 2007; 356: 2457-71 |