Intensivierte Therapie und Lebensqualität
Natürlich sind, wird man sagen, alle drei Bereiche gleich wichtig. Wenn man jedoch genauer hinsieht, wird man feststellen, daß Ärzte oder auch Diabetesberaterinnen durchaus andere Schwerpunkte setzen als Diabetiker. Mehr dazu nachfolgend.
Ärzte, Diabetesberaterinnen etc., also Versorger, haben in ihrer Aus- und Weiterbildung überwiegend etwas über die Komplikationen und Folgen des Diabetes gelernt: So haben Medizinstudenten insgesamt 4 bis 6 Doppelstunden Vorlesungen über die Entstehung, den Verlauf, die Komplikationen und die Therapie des Diabetes mellitus - aber nur maximal eine Doppelstunde Vorlesung zur Lebensqualität allgemein. Daher ist es fast zwangsläufig so, daß die Versorger überwiegend die Lebensperspektive und die Lebenserwartung im Auge haben, während die Lebensqualität eher in den Hintergrund tritt..
Prof. Dr. med. Manfred Dreyer, Internist/Diabetologe DDG; Bethanien-Krankenhaus
Hamburg, Fachbeirat www.diabetes-deutschland.de
Hier eine Übersicht über diesen Beitrag:
Angst vermindert Lebensqualität
Die drei Zielbereiche beeinflussen sich gegenseitig: So bedeutet z.B. die Angst vor Folgeerkrankungen, also vor einer eingeschränkten Lebensperspektive, auch eine Verminderung der Lebensqualität. Die Erfahrung zeigt eindeutig, daß Therapieformen, die die Lebensqualität insgesamt fördern, länger beibehalten werden, erfolgreicher umgesetzt werden und so auch zu besseren Stoffwechselergebnissen führen; unter einer Diabetestherapie mit guter Lebensqualität findet man dann Kraft und Motivation, die Dinge zu tun, die wichtig sind für eine gute Lebensperspektive und eine normale Lebenserwartung. Günther Keiffenheim beschreibt im obigen Artikel eindrucksvoll, wie er den Diabetes früher unter einer konventionellen Insulintherapie erlebt hat: vorwiegend als eingeschränkte Lebensqualität durch starre Diätpläne mit geringer Flexibilität und fehlenden Möglichkeiten, selbst steuern zu können. Die ICT hat Herr Keiffenheim als einen Wiedergewinn an Lebensqualität durch höhere Flexibilität erlebt; daß Lebensqualität immer durch den Patienten selbst beurteilt werden muß und auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, wird an dem Schlußsatz deutlich: Eine Ärztin meint, die Flexibilität unter einer Insulinpumpentherapie sei höher als die unter ICT. Er läßt es offen, ob er der Auffassung folgt. Vielleicht ist ja das ständige Tragen einer Insulinpumpe für ihn eine Belastung? Vielleicht probiert er es ja irgendwann einmal praktisch aus und fällt dann ein vorläufig abschließendes Urteil für sich?
Insulinanaloga werden unterschiedlich beurteilt
Wie unterschiedlich Therapien durch Patienten und Versorger beurteilt werden, zeigt auch die Artikelserie über die Insulinanaloga im Diabetes-Journal (3/2001): Wissenschaftler beurteilten den Nutzen der Insulinanaloga gegenüber Normalund NPH-Insulin eher zurückhaltend, die Patienten hingegen ganz überschwenglich: Die Wissenschaftler betrachten dabei wieder überwiegend die Ziele Lebensperspektive und Lebenserwartung, nämlich die fehlenden bis geringen Effekte auf die HbA1c-Werte, die Zahl der schweren Hypoglykämien, die sich nicht in allen Studien unterschieden, und etwaige unbekannte Langzeiteffekte. Diabetiker hingegen waren zum Teil begeistert von dem neuen Langzeitinsulin Lantus®, weil sie weniger häufig spritzen müssen und teilweise auch bessere morgendliche Blutglukosewerte erzielten. Bei den schnellwirkenden Insulinanaloga (Humalog® und NovoRapid®) stand die Möglichkeit, etwaige hohe Blutglukosewerte schneller korrigieren zu können, ganz im Vordergrund sowie kürzere Spritz-Eß-Abstände. Dies sind Fragen der Lebensqualität.
Also noch einmal: Was für die Lebensqualität des einzelnen wichtig ist, weiß nur der Betroffene selbst - daher sollte er die entsprechenden Entscheidungen selbst fällen dürfen. Dazu benötigt der Patient vor allem korrekte Informationen. Falsche oder unsichere Informationen können dem Patienten schaden.
Problematische Informationen
"Gestörte Glukosetoleranz": Blutglukosewerte zwei Stunden nach einem Glukosetrunk zwischen 140 und 200 mg/dl (7,8 und 11,1 mmol/l).
Seit mehr als 20 Jahren ist bekannt, daß Menschen mit "gestörter Glukosetoleranz" im Vergleich zu Menschen mit normaler Glukosetoleranz häufiger Übergewicht sowie Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte haben - beides sind klassische ursächliche Risikofaktoren für Herzinfarkte; ihr Risiko, in den nächsten 10 Jahren einen Diabetes mellitus Typ 2 zu entwickeln, ist höher. Die Betroffenen bekommen häufiger Herzinfarkte; die erhöhten 2-Stunden-Blutglukosewerte gehen also einem erhöhten Herzinfarktrisiko voraus: Es ist aber nicht bewiesen, daß sie eine Ursache der Herzinfarkte sind; die Ursache könnte etwas anderes sein, was zufällig auch die Blutzuckerwerte erhöht; und es würde dann keinen Sinn machen, die Blutzuckerwerte zu senken. Mit der Markteinführung schnellwirkender Insulinanaloga und kurzwirkender Medikamente in Tablettenform zur Behandlung des Diabetes mellitus wurden die erhöhten Blutzuckerwerte nach dem Essen nun als Ursache gewertet, ohne daß dies durch neue Studien belegt worden wäre.
Nach dem Motto "Graue Haare sind die ursächlichen Faktoren des Alterns, also färbt sie" werden inzwischen hohe Blutzuckerwerte nach dem Essen ("postprandiale" Werte) auch schon bei Menschen mit Typ l Diabetes "gejagt" - obwohl sich die ursprünglichen Daten, wenn überhaupt, auf den Typ 2 Diabetes beziehen.
Was in bezug auf hohe Blutzuckerwerte wirklich bewiesen ist:
- Postprandial (2 Stunden nach Beginn einer Hauptmahlzeit) hohe Blutglukosewerte müssen in der Schwangerschaft vermieden werden.
- Sehr hohe und langanhaltende Blutglukosespitzen nach dem Essen erhöhen auch in geringem Umfang die HbA1c-Werte. Die HbA1c-Werte sind ein sicherer Meßwert, um das spätere Risiko für diabetische Folgeerkrankungen an den kleinen Blutgefäßen (Mikroangiopathie) abschätzen zu können.
Daher empfehlen wir unseren Patienten derzeit: Außerhalb von Schwangerschaften sollten Blutzuckerwerte nach dem Essen nur gemessen werden, wenn die Werte vor den Mahlzeiten im Zielbereich liegen, der HbA1c-Wert aber verhältnismäßig hoch ist.
Blutglukosewerte vor den großen Mahlzeiten |
HbA1c-Wert |
Kontrollen der postprandialen Blutglukosewerte? |
im Zielbereich |
im Zielbereich |
Keine |
erhöht |
erhöht |
keine (es ist eine Insulindosisanpassung erforderlich, wofür die postprandialen Blutglukosewerte keine Bedeutung haben) |
im Zielbereich |
im Zielbereich |
2 Tage 3mal täglich zwei Stunden nach Beginn der großen Mahlzeiten Blutglukoseselbstkontrollen: evtl. Verlängerung des Spritz-Eß-Abstandes. Aber keine Anpassung der Insulindosen nach diesen Werten, sonst Hypogefahr!!! |
Erhöhte Blutglukosewerte nach den Essen können Menschen mit Typ 1 Diabetes durch verschiedene Maßnahmen ausgleichen: verlängerter Spitz-Eß-Abstand, andere Verteilung der KH ect. - nicht jedoch durch Erhöhung der Insulindosen.
Foto: Mattes
Können erhöhte postprandiale Blutglukosewerte Folgeerkrankungen bei Diabetikern hervorrufen?
Derzeit gibt es keine verläßlichen Daten, die diese Annahme rechtfertigen — solange nicht auch der HbA1c-Wert erhöht ist; wichtig sind normale Werte nach dem Essen aber vor allem bei schwangeren Diabetikerinnen!
In vielen Fortbildungsveranstaltungen und Werbeanzeigen wird derzeit den Ärzten aber nahegebracht, daß hohe Werte nach dem Essen Folgeerkrankungen verursachen oder beschleunigen könnten: Statt die Hypothese zu verbreiten, sollten die Beteiligten — und das sind Ärzte und pharmazeutische Industrie — die Hypothese testen. Es müßte zunächst durch eine kontrollierte Studie nachgewiesen werden, daß eine Senkung der postprandialen Blutglukosewerte wirklich die Lebensperspektive der Diabetiker verbessert; nur wenn diese Ergebnisse vorliegen, wäre es gerechtfertigt, entsprechende Behandlungsmöglichkeiten anzubieten. Dazu würde dann, erst dann, z. B. eventuell gehören:
- Vermeiden von zuckerhaltigen Lebensmitteln, die rasch resorbiert werden;
- häufigere kleine Mahlzeiten.
Dieses wären also wiederum Maßnahmen, die die Lebensqualität einschränken würden — derzeit ohne Garantie dafür, daß sich die Lebensperspektive wirklich verbessern würde.
ICT: klassische Therapiefehler
Weil die Bedeutung der postprandialen Blutglukosewerte überschätzt wird, sehen wir jetzt schon häufiger klassische Therapiefehler in der ICT:
- Doppelkorrekturen — Verwendung von Korrekturinsulin während der Wirkdauer der vorangegangenen Injektion von Essensinsulin, also z.B. 2 Stunden nach dem Essen.
- Insulinanpassung nach postprandialen Blutglukosewerten. Dies führt relativ zwangsläufig, genau wie die Doppelkorrektur, zu (schweren) Hypoglykämien.
Es ist jetzt also zu fordern, daß die Blutglukosewerte nach dem Essen nicht voreilig beurteilt werden, sondern ihre Bedeutung in einer entsprechenden Studie geprüft wird; ein solches Vorgehen ist bereits selbstverständlich in der Therapie des Bluthochdruckes und erhöhter Cholesterinwerte. Hier werden für alle neuen Substanzen Langzeitstudien zur sicheren Beurteilung ihres Einflusses auf die Lebensperspektive durchgeführt.
Prof. Dr. med. Manfred Dreyer, Internist/Diabetologe DDG, Ärzlicher Direktor Bethanien-Krankenhaus gGmbH; Mitglied im Fachbeirat von www.diabetes-deutschland.de aus "Diabetes-Journal 10/2001"
Erstellt:Mai 2002
Aktualisiert: Januar 2005
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