Therapiestrategie in der Behandlung des diabetischen Fußsyndroms
Das diabetische Fußsyndrom (DFS) ist eine schwerwiegende und kostenintensive Folgeerkrankung des Diabetes. 6 bis 8 % aller Menschen mit Diabetes haben aktuell oder in ihrer Anamnese ein DFS, das bei den Patienten häufig Ausgangspunkt einer Amputation ist. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die zum Teil erheblichen Komorbiditäten dieser Patienten von besonderer medizinischer Bedeutung. Im Jahre 2004 wurden in Deutschland nach den Daten der AOK 44.000 Amputationen durchgeführt, davon ca. 29.000 bei Diabetikern. Die perioperative Mortalität beträgt bei solchen Amputationen ca. 9 %. Die Dreijahresüberlebensrate nach Majoramputationen liegt in den Industrieländern bei etwa 50 %. Die sozio-ökonomischen Folgekosten dieser Komplikationen sind beträchtlich.
Das Fußgewölbe und die Druckverteilung des Fußes beim Gehen lassen sich mittels Pedographie überprüfen
Die Behandlungsstrategie beim DFS wird nach der unterschiedlichen Ätiologie des Syndroms ausgerichtet. Beim diabetischen Fußsyndrom liegt in fast allen Fällen eine sensomotorische diabetische Polyneuropathie (PNP) vor; in den schweren Fällen von DFS besteht meist gleichzeitig eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK).
Bedingt durch die PNP kann die Wundbehandlung und zum Teil auch ein kleinerer operativer Eingriff an den Füßen in der Regel ohne Anaesthesie durchgeführt werden. Die Haut der unteren Extremitäten ist, bedingt durch die PNP, trocken; es besteht eine Muskelatrophie, die zu Fehlbelastungen der Extremitäten mit vermehrten Druck- und Scherkräften an der Haut führen, die zum Teil durch ungeeignetes Schuhwerk verstärkt werden. Unmittelbare Ursache eines Fußgeschwürs sind oft Hyperkeratosen und Einblutungen. Präexistente Fußdeformitäten wie zum Beispiel Krallenzehen, ein Hallux valgus, Hohlfußstellung oder Voroperationen begünstigen das Auftreten der Läsionen. Die motorische Neuropathie führt über eine Flexionsdeformität der Zehen in Verbindung mit einer eingeschränkten Gelenkmobilität und den genannten Fußdeformitäten zu einem veränderten Gangbild mit einer abnormen biomechanischen Belastung des Fußes und einer pathologischen Druckbelastung.
Therapie:
Die Behandlung des DFS erfordert aufgrund der Komplexität der Erkrankung einen interdisziplinären Therapieansatz bei enger Zusammenarbeit des behandelnden Diabetologen mit Radiologen, Dermatologen, Gefäßchirurgen, Allgemeinchirurgen und Orthopäden. Die Therapiegrundsätze orientieren sich an den Richtlinien des Internationalen Konsensus über den Diabetischen Fuß. Wichtige Eckpfeiler sind intensives Wundmanagement, Druckentlastung, Infektionskontrolle, gute Diabeteseinstellung sowie Abklärung und ggf. Therapie der vaskulären Situation.
Druckentlastung:
Die Druckentlastung der Läsion oder betroffenen Extremität ist die Basis jeder Therapie, insbesondere bei den rein neuropathischen Ulcerationen, die in ca. 85 % der Fälle durch inadäquates Schuhwerk ausgelöst werden. Hierzu stehen Entlastungsschuhe für den Vorfuß- oder Fersenbereich, Unterarmgehstützen oder ein Rollstuhl zur Verfügung. Spezielle Techniken, wie zum Beispiel der Vollkontakt-Gips (total contact cast) sind sehr effektiv, wenn sie korrekt gefertigt und gut überwacht werden. Unter stationären Bedingungen kann eine Entlastung mittels Bettruhe erzwungen werden.
Wundmanagement:
Das Wundmanagement gliedert sich in das Wunddebridement und die Verbandstechnik.
Debridement:
Beim Wunddebridement, das für die Wirksamkeit nachfolgender Behandlungsmaßnahmen bedeutsam ist, wird in der Regel mittels scharfem Instrumentarium, zum Beispiel Skalpell, scharfer Löffel, etc. die Wunde von abgestorbenem Gewebe, umgebenden Hyperkeratosen, Kallusformation, Fibrinbelägen oder „Biofilm“ befreit. Erst nach ausgiebigem Debridement ist die tatsächliche Wundgröße ersichtlich und ein tiefer Wundabstrich zur Keimbestimmung möglich. Durch die Umwandlung einer chronischen in eine akute Wunde wird Heilung induziert. Als Alternative zum klassischen chirurgischen Wunddebridement erfährt im Moment die Madentherapie bei feuchten, nekrotischen Wundtypen eine Renaissance. Auch nach eigenen Erfahrungen lässt sich damit bei geeigneten Wunden ein sehr gutes Grenzzonendebridement in Verbindung mit Granulationsstimulation und antimikrobiellen Effekten erzielen. Dies trifft auch für ORSA-Keime zu.
Verbandsstoffe:
Zur Abdeckung der gereinigten Wunde steht derzeit eine Vielzahl von Verbandsauflagen zur Verfügung, die den Forderungen nach Schutz vor Fremdkörpern, Schmutz, Infektion durch Bakterien, Druck und Reibung sowie Wärmeverlust und Austrocknung nachkommen. Wichtig ist die Schaffung eines „idealfeuchten Klimas“ sowie die Aufrechterhaltung des Gasaustausches, ausreichender Saugkapazität zum Sekretmanagement sowie eine Verträglichkeit. Die Behandlung muss auch die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen angemessen berücksichtigen. Einzelne Verbandsstoffe kombinieren darüber hinaus lokal antiseptische oder das Wundmilieu modulierende Eigenschaften.
Tabelle 1: Systematik der Wundauflagen:
Wundauflagen mit mäßiger Sekretaufnahme Schaumstoffkompressen geschlossen-(Hydropolymerverbände) oder offen-porig ohne Superabsorber, Hydrokolloide
Wundauflagen mit hohem Flüssigkeitsmanagement Alginat-Kompressen / -Tamponaden, Hydrofaserverbände, Schaumstoffkompressen (Hydropolymerverbände) mit Superabsorber, Nasstherapeutika
Wundsysteme die Flüssigkeit abgeben Hydrogele, Nasstherapeutika
Wundauflagen mit antiseptischen/geruchsbindenden Zusätzen Silber- / Kohlehaltige Wundauflagen
Aktive Wundsysteme A) Stoffwechselmodulierende Systeme: Kollagen-Wundauflagen, Wundauflagen mit Wachstumsfaktor B) Substituierende Systeme, Enzymatische Wundreinigung C) biologisch aktive Systeme, Maden
Tüll-Folien-Interfaces „Sekret-Wund-Fixation ohne eigene Kapazität“ Mullkompressen, Fixierverbände, Semipermeable Wundfolien, Saugkompressen, Imprägnierte Gaze
Spezielle Therapieverfahren: Vakuumversiegelung
Autologe Keratinozyten-Transplantate, Reverdin-Plastik, Mesh-Graft |
Therapie mit Vakuumpumpen
Die Vakuumtherapie stellt eine Sonderform des Wundmanagements dar. Diese Therapie erfreut sich in jüngster Zeit zunehmender Beliebtheit. Dies basiert auf einer Vielzahl guter Resultate, die im Rahmen von Anwendungsbeobachtungen erzielt worden sind. Bei der Vakuumtherapie wird nach dem Debridement ein Polyurethan- oder Polyvinylschwamm in das Wundbett eingepasst und anschließend mit einer luftdichten Folie auf der Umgebungshaut versiegelt. Nach Perforation und Anbringen eines Konnektors, der über ein Schlauchsystem und Reservoir mit einer Vakuumpumpe verbunden ist, lässt sich ein kontrollierter, kontinuierlicher oder intermittierender Sog auf die Wunde applizieren. Hierbei kommt es zu einer Wundreinigung, die durch Entfernung des Wundsekrets und der Bakterien erzielt wird. Gleichzeitig kommt es zu einer gleichmäßigen Retraktion des Wundgebietes mit Reduktion des Begleitödems und zur Anregung von Granulationsgewebe. Die Methode wurde zunächst von chirurgischen Kollegen unter Anwendung sogenannter Redonflaschen eingesetzt. Sie hat jedoch erst jetzt nach Entwicklung der Vakuumpumpen mit der Möglichkeit einer kontrollierten Sogapplikation und einer Alarmfunktion größeren Eingang in die Therapie gefunden.
Zusammengefasst richtet sich modernes Wundmanagement nach dem TIME-Prinzip, welches das Wunddebridement (T=tissue debridement), die Infektionsbehandlung mit Unterscheidung zwischen Kolonisation und Kontamination (I=inflammation/infection), die Auswahl der Wundauflage nach der Exsudatmenge (M=moisture balance) und die Wundrandbeurteilung (E=edge of wound) umfasst.
Infektionskontrolle:
Jede offene Wunde birgt das Risiko einer bakteriellen Kontamination oder Infektion, die mit einer weitergehenden Destruktion tiefen Gewebes und schlimmstenfalls einer Beteiligung knöcherner Strukturen einhergeht. Zur Infektionskontrolle werden bei leichten Verlausformen primär lokale Antiseptika und antiseptische Wundauflagen eingesetzt, bei moderaten oder schweren Infekten sollte eine systemische Antibiotikatherapie nach einem entsprechenden Stufenschema ergänzend zur Lokaltherapie eingesetzt. Vor Therapiebeginn ist ein Abstrich zur mikrobiologischen Keimgewinnung zwingend erforderlich, der eine spezifische antibiotische Therapie gemäß Resistogramm ermöglicht. Neben einer klinischen Verlaufskontrolle ist die Bestimmung laborchemischer Parameter wie Blutbild und CRP-Wert hilfreich und von prognostischer Bedeutung.
Bei einer Osteomyelitis, die mittels einer obligaten Röntgenaufnahme, evtl. einer Knochenbiopsie oder klinisch diagnostiziert wird, ist mit einer konservativen Therapie nur selten Erfolg zu erzielen. Oft ist die minimal chirurgische Resektion des betroffenen Knochens im Sinne einer Minoramputation die beste Lösung.
Abklärung und Behandlung einer pAVK:
Eine rasche Abklärung eventuell angiopathischer Ursachen eines diabetischen Fußgeschwürs ist in jedem Falle erforderlich. Bei einem entsprechenden Befund ist die Beseitigung einer Durchblutungsstörung entscheidend für den Behandlungserfolg des DFS. Die pAVK kann als Zeichen einer generellen arteriosklerotischen Erkrankung betrachtet werden und ist auch ein Marker für die kardiovaskuläre Morbidität. Bei Menschen mit Diabetes findet sich in der Regel eine periphere Manifestation der pAVK an den Unterschenkel- und Fußarterien.
Bereits bei Erstkontakt mit einem Patienten ist eine orientierende Differentialdiagnostik mittels Ultraschalldoppleruntersuchung zur Abklärung relevanter Durchblutungsstörungen für die Planung weiterer diagnostischer Schritte erforderlich. Mögliche pathologische Geräuschcharakteristika und reduzierte Indices im Vergleich zum Oberarm (ancle-brachial-index) liefern erste Hinweise auf relevante Durchblutungsstörungen, wobei unauffällige Befunde oft „falsch negativ“ auf dem Boden einer Mönckeberg-Sklerose interpretiert werden können. Im Verlauf komplettieren die Duplexuntersuchung und durch Hinzuziehen eines Radiologen eine Becken-Bein-Angiographie die angiologische Diagnostik. Die Darstellung der Gefäße mittels Kernspinuntersuchung (MRI) bildet zumindest im routinemäßigen Einsatz noch unzureichend die Unterschenkelgefäße ab und ist somit beim diabetischen Fußsyndrom nicht die Methode der ersten Wahl. Die invasive Gefäßdiagnostik findet idealerweise in PTA-Bereitschaft statt, um mögliche umschriebene Stenosen, insbesondere im Oberschenkelbereich, in gleicher Sitzung dilatieren zu können. Bei interventionell nicht angehbarem oder komplexem Gefäßbefund stehen gefäßchirurgische Revaskularisationsmaßnahmen wie z.B. Bypassoperationen zur Diskussion, die erwiesen eine signifikante Senkung der Majoramputationen bedingen. Die Evidenz für eine pharmakologische Therapie zur Verbesserung der Perfusion bei Patienten mit kritischer Extremitätenischämie ist nicht ausreichend.
Stoffwechseleinstellung:
Im Rahmen infizierter Fußläsionen ist grundsätzlich mit einer Entgleisung der diabetischen Stoffwechselsituation zu rechnen, die durch die Notwendigkeit einer relativen Immobilisation noch begünstigt wird. Eine Stoffwechselkontrolle ist gemäß den Richtlinien der DDG individuell mittels diätetischer Vorgaben, dem Einsatz oraler Antidiabetika unter Berücksichtigung möglicher Kontraindikationen oder einer konventionellen bzw. intensivierten Insulintherapie anzustreben. Die Therapie wird durch eine strukturierte Patientenschulung unterstützt, die entsprechende Module einer Fußschulung beinhaltet. Hierbei werden Verhaltensregeln für die akute Krankheitsphase sowie Präventionsmaßnahmen vermittelt.
Prävention und Schulung:
Die Rezidivrate von Fußläsionen beträgt nach 5 Jahren bis zu 70 %, begleitet von einer Amputationsrate von 12 %. Sowohl Primär- als auch Sekundärprävention kommt daher angesichts der oben beschriebenen epidemiologischen Daten große Bedeutung zu: Schulungsmaßnahmen bzw. „Verhaltensregeln“ bezüglich Selbstuntersuchung und Fußpflege sind eine wichtige Interventionsmöglichkeit zur Reduktion der Zahl von Amputationen. Die Identifizierung von Diabetikern hinsichtlich eines Risikofußes („foot at risk“) sollte die Untersuchung auf Fußdeformitäten und erhöhte plantare Druckspitzen, die Anamnese vorangegangener Fußläsionen, ein Neuropathiescreening mittels Monofilament und Neuropathie Disability Score sowie den Pulsstatus einschließen. Weiterhin ist die Behandlung sonstiger krankhafter Veränderungen der Füße, die zu Fußläsionen disponieren, zum Beispiel Tinea pedis, Onychomykose und Nageldeformitäten, neben einer fachgerechten Fußpflege mit Abtragung von Hyperkeratosen von großer Bedeutung für die Prävention.
Ergänzend hat sich eine entsprechende Versorgung mit schützendem Schuhwerk nach dem abgestuften Versorgungsschema der Arbeitsgemeinschaft diabetischer Fuß der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) in enger Zusammenarbeit mit erfahrenen orthopädischen Schuhmachermeistern als hilfreich erwiesen. Die Prinzipien basieren eher auf ausreichendem Platz und geeigneter Fußbettung denn auf biomechanischer Korrektur. Die Palette reicht von diabetesadaptierten Fußbettungen über Entlastungspolsterungen, sog. Spezialschuhen mit Weichbettung, Sohlenversteifungen und versteiften Rollen bis zu Maßschuhen mit einer Orthese. Schützendes Schuhwerk kann ein Ulkusrezidiv bei bis zu 80 % der Patienten vorbeugen.
Tabelle 2:
Schuhversorgung nach den Versorgungsrichtlinien der AG Fuß in der DDG: |
Ia |
D. m. ohne PNP/aVK |
Konfektionsschuhe |
Ib |
mit Fußdeformität |
orthopädische Einlagen, Schuhzurichtungen |
IIa |
mit PNP/aVK |
geeigneter* konfektionierter Schutzschuh |
IIb |
mit Fußdeformität |
geeigneter* konfektionierter Schutzschuh, individuelle diabetesadaptierte Fuß-bettung, Maßschuhe |
III |
wie II, Zustand nach Ulcus |
Schuhversorgung wie II |
IV |
wie II mit hochgradiger Deformität oder DNOAP |
Maßschuh, Orthese, Innenschuh |
V |
Zustand nach Fußteilamputation |
Versorgung wie IV plus Prothesen |
VI |
Akute Läsion |
Entlastungsschuhe, Entlastungsorthesen, TCC etc. |
* genügend Zehenraum, ausreichende Breite, Fehlen von Nähten im Vorderschuh, weiches Leder, herausnehmbare Fußbettung mit Weichpolsterung und Reduktion von Druckspitzen um mindestens 30 % im Metatarsalbereich. Keine harten Vorderkappen.
Beurteilung adäquat / nicht adäquat nach dem Versorgungsmodus (s. o.) und der Passform |
Gerd Friese, Oberarzt an der Deutschen Diabetes-Klinik des Deutschen Diabetes-Zentrums an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung
Erstellt: April 2006 |